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IMG_20210107_193019Gestern ist in Washington das passiert, was Trump-Kritiker schon immer vorausgesagt haben. Eine Anzahl Leute hat das Kongress-Gebäude gestürmt.

Seit Wochen wird von den Republikanern die Wahlniederlage angezweifelt. Zuletzt ging es um den Staat Georgia. Dort wurde um zwei Sitze im Senat gekämpft. Nachdem klar war, dass diese zwei Sitze an die Demokraten fielen, sahen die Anhänger des Präsidenten offensichtlich keine andere Möglichkeit mehr, sich zu artikulieren.

Das alles ist unwürdig. Der Präsident selbst ist es eigentlich auch. Alle sind sich darin einig und freuen sich auf Joe Biden.

Soweit so gut. Was mich an dem Ganzen interessiert ist, wie es so weit kommen konnte? Wie war es möglich, dass ein augenscheinlich grandioser Selbstdarsteller und Narzisst und manchmal Clown 74 Millionen Amerikaner für sich gewinnen konnte?

Da werden sicher einige einfach strukturierte Leute dabei sein, aber es sind doch nicht alle so.

Ich kann mir nur vorstellen, dass sie die schiere Verzweiflung dahin gebracht hat, ihn zu wählen. Zum ersten Mal hatte ich diesen Gedanken, als ich mir den Film Fahrenheit 9/11 angesehen habe. Darin geht es zum großen Teil um die Arroganz des demokratischen Parteiestablishments. Es wird gezeigt, wie abgehoben die Clintons, die Obamas, die Pelosis gegenüber den Bedürfnissen und Nöten der arbeitenden Menschen sind.

 

„Deaths of Despair“ lautet der Titel eines Buches von dem Nobelpreisträger Angus Deaton und seiner Frau Anne Case. „Tode der Verzweiflung“, das habe sich angeboten als Sammelbegriff. Gemeint ist die wachsende Zahl von Suiziden, von Überdosen an Drogen, von Alkoholismus und seinen Folgeerkrankungen. Am stärksten betroffen ist das, was die beiden die „white working class“ nennen – immerhin 70 Prozent aller Amerikaner mit heller Haut. Es sind Leute, die kein College besucht haben und heute oft nur schlecht bezahlter Tätigkeit nachgehen, sich häufig von einem Job zum nächsten hangeln, oft ohne die Krankenversicherung, die meist der Arbeitgeber für seine Beschäftigten abschließt. Die Fabriken, in denen sie arbeiteten, gibt es nicht mehr.

 

Trump ist nicht Ursache, sondern Folge von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Seine Slogans „Make America great again“ und „Bring the jobs back to America“ waren Leuchtfeuer für Millionen.

„Der Ursprung dieses Elends sind laut Deaton und Case die tektonischen Verschiebungen am US-Arbeitsmarkt. Beschäftigte, die früher auch ohne Hochschulabschluss ein auskömmliches Leben führen konnten, geraten dort immer stärker in Schwierigkeiten. Korrigiert um die Inflation seien die Löhne der ärmeren Hälfte der US-Bevölkerung ein halbes Jahrhundert lang nicht mehr gestiegen – weiße Männer ohne Hochschulabschluss hätten zwischen 1979 und 2017 sogar 13 Prozent ihrer Kaufkraft verloren.“ (Spiegel 5.7.20)

 

Trump versprach die Mauer zwischen Mexiko und den USA. Zuvor wurde unter Clinton das Freihandelsabkommen NAFTA installiert.

 

„Für die Arbeiter in den am stärksten betroffenen Regionen und Branchen der USA begann der Abstieg allerdings zeitgleich mit Nafta. Die Stammwähler der Demokraten sahen sich in ihrer Not von ihrer Partei verlassen. Das erklärt zum Teil den Aufstieg von Donald Trump und zugleich Hillary Clintons schlechte Umfragewerte bei weißen Männern. ,Die Parteibasis der Demokraten war eigentlich immer gegen diese Abkommen, doch das ist von der Parteispitze ignoriert worden‘, sagt Melinda St. Louis von Global Trade Watch, einer Bürgerinitiative, die Handelsabkommen kritisch beobachtet.“ (Die Zeit)

 

Für 2060 wird vorausgesagt, dass nur noch 44 % der Amerikaner weiß sein werden. Die Mehrheit sind dann Latinos, Afro-Amerikaner und Asiaten. Das alles schürt Ängste um den Verlust der Existenz und der amerikanischen Lebensart. „Da muss man halt flexibel sein, sich dem Wandel anpassen!“, sagen die intellektuellen Trendsetter, die nie etwas anderes als Konzepte und Essays über sozialen Wandel produziert haben, aber nicht in der Lage sind, eine Elektroleitung zu legen.

 

Es geht um nichts weniger als um den amerikanischen Traum. Persuit of happiness schrieb Thomas Jefferson seinen Landsleuten in die Unabhängigkeitserklärung.

 

Trump war der einzige, der diese Ängste bisher wahrnahm.

Ein Land ist so wie die Menschen, die darin wohnen. Wenn wir die Länder Südamerikas ansehen, dann ist da keines, das wirklich funktioniert. Keines, das seinen Bewohnern Sicherheit, Arbeit und Freiheit bringt. Ein Putsch, eine Diktatur jagt die andere. Deswegen wollen die Menschen weg, am liebsten in die USA. Wer könnte das nicht verstehen?

Aber – wenn die Mehrheit der US-Bürger aus ehemaligen Südamerikanern besteht, dann werden auch südamerikanische Verhältnisse dort einziehen.

 

„Was da abläuft, ist wie ein natürliches Experiment“, sagt Karlyn Bowman, die für das konservative American Enterprise Institute an einem Bericht mitgearbeitet hat, der gemeinsam mit dem linksliberalen Thinktank Brookings und dem linken Center for American Progress erstellt wurde. Auch wegen dieser Transformation durchlaufe Amerika gerade eine Periode demokratischer Turbulenzen, sagt Bowman. Aber letztlich sei sie zuversichtlich, was die Zukunft des Landes anbelange. Schließlich habe man schon ganz andere Probleme gemeistert.“

 

Natürlich ist Frau Bowman nicht von diesem „Experiment“ betroffen. Sie sitzt sicher in ihrem „Thinktank“ und wird nie ein Fließband sehen. Sie stellt nichts her, was die Menschen brauchen. Sie beschreibt nur Menschen, die etwas herstellen, das man braucht. Wahrscheinlich würde sie nie Trump wählen, muss sie ja auch gar nicht.

Wenn Trump am 20. Januar abtritt, wird nur ein Symptom verschwinden, aber nicht die Ursache dafür.

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