Über das Verweilen

PICT1338Während einer Reise durch Rajastan waren wir auch ein paar Tage in Pushkar. Der Legende nach ließ Gott Brahma an dieser Stelle eine Lotusblüte (Pushkar) auf die Erde niederfallen und es entstand ein See. Um diesen See gruppierten sich im Laufe der Jahrhunderte viele Tempel und so ist die Stadt noch heute ein beliebter Wallfahrtsort. Leider zerstörte der Großmogul Aurangzeb in religiösem Fanatismus einen Großteil der alten Tempel, sodass die heute noch stehenden nur aus den letzten 300 Jahren stammen. Bemerkenswert ist, dass nur 11 Kilometer entfernt Ajmer liegt, der wichtigste Wallfahrtsort der indischen Moslems. Da die Hindus vor den Moslems in Indien waren, kommt mir der Gedanke, dass hier wie an vielen religiösen Orten eine Überlagerung geplant war. Auch in unserer christlichen Tradition wurden ja Kirchen über Tempel und alte Heiligtümer gebaut.

Wie auch immer, jeder der Pushkar besucht, kann sich seinem Zauber an heiterer Gelassenheit nicht entziehen. Auf den Ghats, die hinunter zum Wasser führen, spielt sich mannigfaltiges Leben ab. Fromme Hindus verrichten ihre Riten, Kühe, Affen, Ziegen und Tauben sind genauso geduldet und respektiert wie Menschen. Das ist für mich immer wieder das Faszinierende an Indien, diese Toleranz dem Anderen gegenüber. Jeder, und damit sind nicht nur Menschen gemeint, kann nach seiner Art leben – und auch sterben. Es ist beileibe nicht alles idyllisch.

Mehrmals am Tag bummelten wir durch die Straßen und verweilten am See. Es spielten sich oft die gleichen Rituale ab. Die Händler sprachen uns an, es gab einen kleinen Schwatz, wir sagten „vielleicht ein andermal“, was mit einem freundlichen Lächeln quittiert wurde. Drei Stunden später wiederholte sich das Ganze. Vielleicht lag diese Leichtigkeit zum Teil auch an dem frühlingshaften Januarklima – Indien mal nicht schweißgebadet. Es war, als schwebte Mörikes Frühlingsgedicht über uns.

 

Als es an der Zeit war, einen Reisescheck einzuwechseln, kamen wir, wie so oft in Indien, mit dem Inhaber des kleinen Ladens ins Gespräch. Wir sprachen über dies und das und kamen auch auf das Reisen. Wir sprachen von früheren Indienaufenthalten und fragten, wo er denn schon überall gewesen sei? Nirgends, antwortete er. Er habe noch nie den Wunsch oder die Notwendigkeit verspürt, Pushkar zu verlassen. Er finde hier alles, was er sich wünschen könne. Da staunten wir Weitgereisten und wunderten uns. Hatten wir hier einen etwas eingeschränkten Vertreter der menschlichen Spezies vor uns oder einen Fastheiligen? Er machte nicht den Eindruck des ersteren und dieser Gedanke kam mir auch nicht ernsthaft angesichts der heiteren Gelassenheit, die er ausstrahlte. Gleichviel, dieses Erlebnis bot Stoff zum Nachdenken.

Wie ist es bei uns? Reisen bildet, heißt es. So sind wir denn ständig unterwegs. Auch auf Reisen, die nichts mit Bildung zu tun haben, sondern nur der Zerstreuung dienen. Viele verbringen Zeiten in einem Land, ohne die Grenzen des Urlaubsresorts zu verlassen. Diese Bewegungswut ist meinem Eindruck nach nur ein Ausdruck einer generellen Haltung. Tiefer, schneller, weiter, höher, größer, schöner usw. Das sind unsere Götter. Stillstand heißt Rückschritt – sagt man in der Wirtschaft. Vor Jahren schrieb E.F. Schuhmacher sein Buch „Small is beautyful“. Kleine Wirtschaftseinheiten mit überschaubarer Energieversorgung waren seine Idee. Der Einzelne sollte sich darin wiederfinden können. Diese Idee gibt es auch heute noch – in Indien, in den noch vorhandenen Gandhidörfern. Was finden wir dagegen zunehmend? Immer größere Einheiten, die nicht einmal mehr von Staaten kontrollierbar sind. Der Widerstand gegen diese Globalisierung kommt nicht von ungefähr.

Auch bei unserer inneren Entwicklung scheinen wir oft nach dem obigen Motto zu verfahren. Wir streben nach Vervollkommnung, besuchen dieses und jenes Training, machen diese und jene Ausbildung und irgendwie glauben wir wohl, dass wir irgendwann einmal fertig seien. Obwohl wir natürlich sagen, dass das Persönlichkeitswachstum nie endet. Heißt es doch auch: „Der Weg ist das Ziel“. Hier liegt aber, so glaube ich, ein Missverständnis vor. Das Ziel, darin sind sich alle Suchenden weitgehend einig, besteht aus Attributen wie Gelassenheit, innerer Ausgeglichenheit, konzentriertem Handeln, Harmonie mit sich und seiner Umwelt usw. Wenn dies das Ziel ist, dann müsste der Weg dahin genauso aussehen. Das ist es, was der Satz oben sagt. Eigentlich scheint es ein Paradox zu sein. Einerseits Bewegung, andererseits Ruhe. Bewegen im Verweilen. Es fordert von uns ein hohes Maß an Bewusstheit, diese beiden Momente in jedem Augenblick in Einklang zu bringen. Beide sind gleichsam die Hälften einer Kugel. Ist nur Bewegung, herrscht sinnentleerte Dynamik. Ist nur Verweilen, herrscht Trägheit und Stillstand.

Der folgende Text stammt aus Rabindranath Tagores „Sadhana“ (innere Entwicklung), in der Übersetzung von Helen Meyer-Frank, München 1921:

„Wir sehen, wie im Abendlande der Mensch hauptsächlich darauf bedacht ist, sich nach außen hin auszudehnen. Das freie Feld der Macht ist sein Gebiet. Er hat nur Sinn für die Welt der äußeren Ausdehnung und mag mit der Welt des inneren Seins, der Welt, wo seine Vollendung liegt, nichts zu tun haben, ja, er glaubt nicht einmal daran. Er ist so weit gekommen, ­dass es für ihn nirgends Vollendung zu geben scheint. Seine Naturwissenschaft redet immer von der nie endenden Entwicklung der Welt. Seine Philosophie hat jetzt angefangen, von der Entwicklung Gottes zu reden. Sie wollen nicht zugeben, dass er ist; sie behaupten, dass auch er ewig werdend ist. Sie erkennen nicht, dass das Unendliche, wenn es auch über jeg­liche bestimmbare Grenze hinausgeht, doch zugleich vollstän­dig ist; dass Brahrna auf der einen Seite in ewiger Entwicklung und auf der anderen die Vollendung ist; dass er sowohl Wesen wie Offenbarung ist, beides zu gleicher Zeit, wie das Lied und das Singen dasselbe ist.“

Lassen wir Tagores Gedanken auf uns wirken. Es ist seine Meinung und seine Erfahrung. Wir müssen sie mit unserer Wirklichkeit vergleichen und das ist auch der Sinn jedes Geschriebenen.

Stoff zum Nachdenken, lieber Leser. Wenn wir nicht nach Pushkar gereist wären, wäre ich dann mit diesen Gedanken in Berührung gekommen? Vielleicht, vielleicht auch nicht? Wahrscheinlich muss jeder seinen eigenen Weg gehen und sich seine Anstöße auf seine eigene Weise holen, der Mann in Pushkar, Ich, Sie.

 

 

 

 

Dchingis Khan reitet weiter

PICT1041Dchingis Khan brauste einst durch Asien. Er machte Buchara und Samarkand dem Erdboden gleich und tötete Hunderttausende.

1258 eroberte der Mongole Hülegü Bagdad. Die Opfer werden von 100000 bis zu einer Million geschätzt. Die Einnahme beendete das sogenannte „Goldene Zeitalter des Islam“, in dem der Mittlere Osten als Zentrum von Kunst und Wissenschaften galt.

Die CIA stürzte den gewählten Präsidenten Chiles, Salvador Allende und installierte den Diktator Pinochet, der Tausende töten ließ.

Stalin ließ Millionen in den Gulags verschwinden. Heute reiben wir uns auf und verlieren uns in Meinungskämpfen zwischen Klimarettern und deren Gegnern, zwischen Gendern und denen, die das ablehnen. Es hört nie auf!

Für den Weisen ist all das „leeres Stroh“, das zu dreschen sich nicht lohnt. Wir sollten ab und zu innehalten, uns klarmachen, dass der einzige Sinn des Lebens darin besteht, unser Bewusstsein der Erkenntnis des Geistes zu nähern. Das Ziel ist nicht, die Welt zu retten, sondern in der relativ kurzen Zeit, die wir haben, auf eine höhere Bewusstseinsebene zu kommen. „Dchingis Khan reitet weiter“ weiterlesen