Das Leben ist ein langer,ruhiger Fluss

oznor

Vor ungefähr vierzig Jahren hatte ich in einem meiner Yogakurse eine sehr aktive alte Dame, Frau Braun, Anfang achtzig. Sie war gerade dabei, Russisch zu lernen.

In der Stunde, an die ich mich gerade erinnere, ging es um die Gleichmut. Es gibt diesen bekannten Ausspruch: „Wie ein Lotosblatt auf dem Wasser schwimmt, ohne nass zu werden, so bleibt der Yogi unberührt von den Wechselfällen des Lebens. Für ihn ist heiß und kalt, erwünscht oder unerwünscht, Tag und Nacht gleich. Sein Denken ist immer gelassen beobachtend.“

Frau Braun sah mich kurz und zweifelnd an und sagte: „Aber Herr Pflug, dass stimmt doch nicht. Die Würze des Lebens liegt doch gerade im Auf und Ab, dass es mal so, mal so ist. Sonst wäre es doch todlangweilig.“

Wir kennen andererseits aber auch solche Sprüche wie: „Man soll aufhören, wenn es am Schönsten ist“. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass nach dem Gipfel unweigerlich der Abstieg kommt, den wir nicht gerne haben.

Des Menschen Denken ist ein seltsam Ding. Am Liebsten ist es uns, wenn die Welt sich nach unseren Wünschen dreht. Wenn man gerade in einer Phase ist, die abwechslungsreich, aber angenehm ist, dann lässt sich trefflich über den Reiz der Abwechslung reden. Wenn aber etwas wirklich Leidvolles geschieht, dann sieht die Sache ganz anders aus. Abwechslung wünschen wir uns nur, wenn es uns gut geht. In der Regel sind wir in der Dualität gefangen. Unangenehmes ist uns unangenehm.

Wenn wir uns umsehen, nehmen wir einen Run auf Nostalgisches wahr. Wenn eine Tiefgarage gebaut wird und der Bauherr hat das Pech, auf Fragmente einer alten Mauer zu stoßen, dann kann er sich auf lästige Verzögerungen einstellen, weil die alten Steine aufwändig durch eine Glaswand gesichert werden müssen und in der Umgebung alles sorgfältig abgesucht werden muss. Früher hat man die alten Steine einfach abgetragen und für den Hausbau verwendet. Dieses Erhaltenwollen von Altem ist ein Symptom unserer Zeit. Wenn einer früher seine Heimat verließ und nach dreißig Jahren wieder kam, fand er sein Dorf oder das Städtchen mehr oder weniger in gleichem Zustand vor. Heute ist das ganz anders. Vergleichen wir den Ort, wo wir geboren sind mit dem jetzigen Erscheinungsbild, dann ist es wahrscheinlich, dass erhebliche Änderungen stattfanden. Das verunsichert. Deswegen klammern wir uns an Altes. Es ist der Versuch, ein bisschen Stetigkeit ins Dasein zu bringen.

Wir haben auch die Eigenart, anzunehmen, dass sich grundsätzliche Veränderungen ergeben, wenn erst das und das vorbei ist:„Wartet mal, nächstes Jahr sind Wahlen, dann wird ein neuer Präsident gewählt, dann wird alles anders.“ Dabei vergessen wir, dass es danach in anderer Art einfach weiter geht, sich in der Substanz aber nichts verändert. Die Erde wird auch dann nicht zum Paradies. Es wird immer etwas Neues auftauchen. Es ist nie zu Ende.

Das betrifft in besonderem Maße auch die persönliche Entwicklung. Wir glauben gerne daran, eine Entwicklungsebene erreicht zu haben und müssen immer wieder feststellen, dass das ein Trugschluss war.

Es heißt: „Das einzig Stabile im Leben ist der Wandel.“ Das sagt sich so leicht dahin, aber glauben tun wir es nicht. Warum sonst sind wir immer wieder so überrascht, wenn die Situation anders ist als wir sie erwartet haben?

Es gibt eine Übung, die ganz hilfreich sein kann, um sich die Vergänglichkeit der materiellen Welt immer wieder vor Augen zu führen:

„Anitya Bhavana“ ( Anitya =Vergänglichkeit, Bhavana = Haltung, Einstellung)

Setze dich für ein paar Minuten entspannt hin und vergegenwärtige dir folgende Sätze:

„Was am Morgen war, ist anders als am Mittag;

was Mittag war, ist anders als am Abend;

denn alles ist veränderlich.

Unser Körper, der für uns so wichtig ist,

ist vergänglich wie Wölkchen am Himmel.

Was uns Freude bringt, vergeht.

Reichtum vergeht.

Jugend ist wie eine Feder, die der Wind davon trägt.

Warum sollte ich an irgendetwas hängen, wenn nichts von Dauer ist und alles vergeht?“

Dies mag anfänglich negativ und pessimistisch klingen. Ist es aber nicht! Es ist die Realität. Wenn wir sie sehen können, dann erst werden wir wahrlich positiv sein können.

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