Noch immer die meisten der Deutschen gehören einer der zwei großen Kirchen an. Auch ich war ein gut Teil meines Lebens Mitglied der Evangelischen Kirche. Schon in der Volksschule mussten wir den Kleinen Katechismus auswendig lernen. Dann kam der Kindergottesdienst, mit
Anwesenheitspflicht, die auch durch die Unterschrift des Diakons bestätigt wurde. Zu häufiges Fehlen wurde mit der Androhung der Verweigerung der Konfirmation geahndet. Schließlich folgte der Präparanden- und Konfirmandenunterricht. Zur Konfirmation mit Vierzehn bot mir Onkel Gustav die erste Zigarette an.
Ich möchte mal sagen, dass ich ziemlich bibelfest bin. Ich kann von Kindesbeinen an die Evangelien in der Reihenfolge hersagen und auch die Bücher des Alten Testaments. Viele Textstellen kenne ich und ich lernte ihre Schönheit und Poesie schätzen.
Als ich 70 wurde, besuchte mich der hiesige Pfarrer und wunderte sich, dass er mich nicht kannte. Ich sagte ihm, dass ich mich von den Gottesdiensten nicht recht angesprochen fühlte und deswegen auch nicht mehr hingehen würde.
Er lud mich zu alle vierzehn Tage stattfindenden Gesprächsabenden ein, die drängende Fragen klären könnten. Ich warnte ihn, dass ich mich nicht mit einfachen Antworten zufrieden geben würde.
Zweimal ging ich hin und dann tat er mir leid und zwar deswegen, weil er mir hilflos vorkam.
Denn – er konnte trotz all seines „Fachwissens“ keine meiner Fragen klären.
Warum musste Jesus am Kreuz sterben, um mir und allen anderen Menschen unsere Sünden zu vergeben?
Zunächst einmal, um welche Sünden geht es eigentlich? Und was sind Sünden? Ich und alle anderen Lebenden waren ja noch gar nicht geboren?
Warum kann Gott, der ja allmächtig ist, nicht einfach sagen: „OK Leute, Schwamm darüber, vergeben und vergessen.“
Ich habe das Ganze bewusst etwas naiv formuliert, aber im Kern bleiben diese Fragen bestehen und ich finde es traurig, dass ich und wohl auch viele andere Menschen die zentrale Botschaft der Religion nicht verstehen, mit der wir aufgewachsen sind.
Manchmal denke ich, dass Jesus der am meisten missverstandene und vielleicht missbrauchte Mensch ist, der über den Boden Palästinas ging. Er war Jude und wollte den jüdischen Glauben von zeremoniellem Ballast befreien. Er hatte nie vor, eine neue Religion zu gründen.
Er war im besten Sinn ein Heiliger, der sich mit Fug und Recht als Gottes Sohn bezeichnen konnte. An seinem letzten Abend zeigte er uns sein Menschsein. Er hatte Angst und bat seine Gefährten, mit ihm zu wachen. Ich hatte nie den Eindruck, dass er sterben wollte und es wäre auch nie geschehen, wenn der Zelot Judas nicht seine eigenen Pläne gehabt hätte. Er wollte aus Jesus einen politischen Märtyrer machen, dessen Charisma das Volk zum Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht rufen sollte.
Dem stand aber ganz klar sein Wort „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ entgegen. Es war auch nicht seine Sache, auszuweichen, d.h. zu fliehen. Er hatte eine Botschaft und zu der stand er.
Der Tod am Kreuz ist die schändlichste Hinrichtungsart, die man damals kannte. Für seine Apostel, insbesondere Paulus, musste es ein Problem gewesen sein, dass ihr „Christus“ so sterben sollte. Sein Kreuzigungstod musste also einen „höheren Zweck“ erfüllen.
Man darf nicht vergessen, dass Jesus nie ein geschriebenes Wort hinterlassen hat. Die Evangelien wurden Jahrzehnte später geschrieben. Die genaue Urheberschaft ist unbekannt. Das heißt, die Botschaft wurde im Laufe der Jahrzehnte mit sehr menschlichen, mithin weltlichen Interessen vermischt.
In der Geschichte der Kirche ging es von Anfang an um die Vergebung der Sünden durch die Priester. Der Ablasshandel war ja letztlich auch ein wesentlicher Grund für die Reformation. In den ersten Jahrhunderten nach Jesu Tod stand das Papsttum noch auf tönernen Füßen.
Die Geschichte der sogenannten Kirchenväter zeigt, wie hart um das Dogma gerungen wurde. Man brauchte also etwas wirklich Zugkräftiges, um eine Religion mit all ihren Instrumenten zu erschaffen.
Jesus sagte zu Petrus: „Du bist der Fels, auf dem ich meine Kirche erbauen werde.“ Von Nachfolgern Petrus‘ hat er aber nicht gesprochen. Dazu machten sich die Päpste selbst. Hier ging es immer auch um Macht. Also argumentierte man:
Wer an Jesus glaubt und daran, dass er für die Sünden jedes einzelnen Menschen am (schändlichen) Kreuz gestorben ist und der durch Petrus begründeten Papstkirche folgt, erwirbt die ewige Seligkeit.
Die „Anderen“ werden schrecklich bestraft.
Ich meine aber, dass „Glauben“ zu wenig ist. Jesu‘ Botschaft war Liebe als Daseinsform. Sünde ist das Abfallen von dieser Art des Lebens. Noch größere „Sünde“ ist das Liegenbleiben, das Aufgeben nach einem „Sündenfall“. Vergeben in diesem Sinn bedeutet also: Wer in konstantem Bemühen lebt, das, was Jesus als zentrale Botschaft verkündet hat zu verwirklichen, dem ist vergeben.
Der Tod am Kreuz ist meiner Meinung nach ein politisches Fanal, um sich eines lästigen Störenfrieds zu entledigen.
Mir ist klar, dass das in krassem Gegensatz zum Dogma steht, aber ich bin überzeugt, dass sich jeder Mensch auf seinem ganz eigenen Weg dem Göttlichen annähern muss.
Wenn man weiter denkt, muss man zu dem Schluss kommen, dass der Kreuzigungstod sinnlos war und die damit verknüpfte Leidensreligion, mit der Erde als Jammertal, auch.
Denn – wenn die zentrale Botschaft von Gottes Sohn die Liebe ist, wäre es dann nicht ein Riesenwiderspruch, wenn man das Leiden, die Sünde, das Büßen und all das, was die Kirche an Verfluchen über die Menschen gebracht hat, als wahr nimmt?