1992 „wandelte“ ich ehrfürchtig im Schatten der alten Bäume durch die Gefilde des „heiligen Esalen“ an den Gestaden von Big Sur in Kalifornien. Jahrelang lagen dann einige Eukalyptusblätter, die ich „ in den heiligen Hainen “aufgelesen hatte, auf meinem Fenstersims.
Natürlich klingt dieser Satz recht pathetisch. Das soll er auch, denn Esalen war ein Zentrum der Human Potential-Bewegung, in der verschiedene philosophische und psychologische Ansätze zur Steigerung des Selbstbewusstseins und der menschlichen Potentiale erforscht wurden.
Für uns, die wir in dieser therapeutischen Tradition arbeiteten, war es sozusagen Mekka.
Hier eine Auswahl von Leuten, die dort gewirkt haben oder wie ich Besucher waren.
Gelehrte: Gregory Bateson, Joseph Campbell, Virginia Satir, Alan Watts, Ida Rolf, Gia-Fu Feng, George Leonard, Fritz Perls, John C. Lilly, Will Schutz, Sam Keen, Bruder David Steindl-Rast, Babatunde Olatunji.
Musiker: Joan Baez, Judy Collins, the Flying Burrito Brothers, Mama Cass Elliot, Arlo Guthrie, Country Joe McDonald, John Sebastian, Mimi Farina, Simon and Garfunkel, einige Beatles.
Autoren: Aldous Huxley.
Psychologen: Abraham Maslow.
Fritz Perls war der Begründer der Gestalttherapie. Dabei geht es darum, dass das Individuum die Gesamtheit seines inneren und äußeren Erlebens wahrnimmt, somit Verdrängtes in sein Ich-Bewusstsein integriert und ganzheitlich interagieren lernt.
Verdrängtes wird bewusst und „Gestalten“ werden geschlossen.
Was Gestalt meint, drückt sich am deutlichsten im „Gestaltgebet“ von Fritz Perls aus:
„Ich tue das Meine, und du tust das Deine.
Ich bin nicht auf dieser Welt, um deinen Erwartungen zu entsprechen,
und du bist nicht auf dieser Welt, um meinen Erwartungen zu entsprechen.
Du bist du, und ich bin ich,
und wenn wir uns zufällig finden, wunderbar.
Wenn nicht, ist das nicht zu ändern.“
Die Gestalttherapie selbst legt großen Wert auf die Erfahrung im Hier und Jetzt, die Wahrnehmung von sich selbst und die Fähigkeit, authentisch zu handeln.
Das hört sich zunächst sehr gut an. Ein früherer Freund von mir arbeitete einige Jahre mit einem Gestalttherapeuten. Im Lauf der Zeit wirkte er immer egozentrierter, denn er äußerte seine Meinung und seine Bedürfnisse sehr direkt, was zu einer gewissen Isolation führte. Er wirkte unleidlich.
Im Volksmund heißt es: Wenn alle immer die Wahrheit sagen würden, gäbe es Mord und Totschlag. Das Gestaltgebet drückt für mich eine gewisse Kompromisslosigkeit aus: „Du meinst dieses, ich meine jenes, wenn wir zusammenkommen wäre es nett, wenn nicht, geht jeder seiner Wege.“
Der Begriff Höflichkeit basiert auf „höfischem Benehmen“. Nach den napoleonischen Kriegen trafen sich die ehemaligen Gegner auf dem Wiener Kongress, um die Neuordnung Europas festzulegen. Daher stammt das geflügelte Wort:„Der Kongress tanzt.“ Man tanzte, dinierte, parlierte, antichambrierte und – vermied sorgfältig, dem anderen zu sagen, was man wirklich von ihm hielt, um zu vermeiden, dass dieser beleidigt abzog. Denn, was hätte das genützt? So lernte man sich kennen, schlich ein dutzendmal wie die Katze um den heißen Brei und kam dann mit galantem Lächeln zu einer Lösung.
Im Yoga kennen wir den Begriff Satya. Das heißt Wahrhaftigkeit. Es ist mehr als „nicht lügen“. Die Wahrnehmung des Yogi ist in hohem Maße kohärent, sodass es keinen Unterschied zwischen Außen und Innen gibt.
In den hohen Stufen des Yoga ist die Wahrnehmung so ganzheitlich, dass es keine Trennung mehr gibt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Yogi „sieht“ in einem Stück Ton auch die fertige Vase und die späteren Scherben.
Er könnte aus dieser Fähigkeit (Siddhi) heraus beim Kontakt zu einem Menschen sagen:„Morgen bist du tot!“
Allerdings gibt es eine entscheidende Einschränkung im Aussprechen der Wahrheit. Wenn dadurch Gewalt (Ahimsa), im weitesten Sinne also Leid und Schmerz, entstehen, dann wird geschwiegen.
Ahimsa, die Abwesenheit von Gewalt, ist immer oberstes Gebot.
Wenn wir also geneigt sind, dem Anderen unsere Wahrheit „um die Ohren zu hauen“, wäre es gut, dies Prämisse im Auge zu behalten.