Das Gute im Schlechten

IMG_20230505_165338Wir leben in einer Zeit, in der die Aufspaltung der Gesellschaft immer weiter voranschreitet und von politischen Interessen sogar gefördert wird.

Jede dieser Interessengruppen wähnt sich im Besitz der Wahrheit und streitet erbittert um ihre Durchsetzung. Man selbst vertritt das Gute, die Anderen sind die Bösen.

Es ist dieses ewige Aufteilen in Gut und Böse, welches nur zum Negativen führen kann.

Aber – wer wären wir, wenn wir den Weltenlauf ändern könnten, das heißt, Yin und Yang werden sich bis zum Ende der Zeit abwechseln. Wie das Symbol zeigt, ist das Gegenteil des gerade Herrschenden auch dann vorhanden, wenn dieses am stärksten gegenwärtig ist, was durch den andersfarbigen Punkt dargestellt ist.

Im Yoga nennen wir diesen Wechsel Prana, die Lebensenergie. Sie zirkuliert in den beiden Hauptnadis Ida und Pingala: Mond und Sonne, kühl und heiß, essen und ausscheiden. Erst wenn durch die Kraft des Yoga diese Energie im zentralen Nadi Susumna aufsteigt, ist der Yogi Herr über die Materie.

Auch im individuellen Dasein teilen wir fein säuberlich das Gute und das Schlechte. Alles, was Spaß macht, ist gut und alles andere ist schlecht. Wir vergessen allerdings dabei, dass wir nicht leben, um Spaß zu haben, sondern um zur Weisheit, zur Erkenntnis der absoluten Realität, mit anderen Worten, zu Gott zu gelangen. Dazu gehört, dass wir aufhören, die Welt in positiv und negativ zu unterteilen.

In der Bhagavad Gita heißt es: „Das Denken des Yogi ist unberührt von heiß und kalt und Tag und Nacht – so wie das Lotosblatt auf der Wasseroberfläche schwimmt, ohne nass zu werden.“

Yoga nennt das Nichterkennen der Realität „Klesa“. Eines dieser Klesas ist Dvesa. Es ist die Ablehnung von scheinbar Unangenehmem. Klesas sind „Defekte“ im Denken. Wenn wir bewusst im Denken wären, dann könnten wir wahrnehmen, dass in diesem ständigen Unterscheiden nur Schmerz und Ärger liegt und uns dies ein gut Teil unserer Lebensfreude kostet. Zudem hat es mit der Wirklichkeit gar nichts zu tun.

Nehmen wir einen Menschen, der eine nicht gar zu glückliche Kindheit hatte. Es mögen sich Dinge abgespielt haben, die schmerzhaft waren. Es mögen sich daraus diverse Komplexe entwickelt haben, die zu schwach entwickeltem Selbstwertgefühl geführt haben. Daraus wiederum entwickelten sich Bewältigungsstrategien, die nicht hilfreich und weder für die psychische noch physische Gesundheit zuträglich sind.

Es gibt zwei Möglichkeiten, mit dem Geschilderten umzugehen. Die erste, man nimmt die Defizite hin und klagt sich durchs Leben hindurch: „Was bin ich doch für ein armes Wesen!“ Oder man begibt sich auf einen Entwicklungspfad. Im Yoga nennen wir das Sadhana.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass gerade die ungeliebten Aspekte meiner Persönlichkeit die wichtigsten Quellen meiner Energie sind. Ich wäre nie nach Indien gegangen oder psychotherapeutisch tätig gewesen, wenn in meinem Leben alles glatt gegangen wäre. Wozu sollte man sich mit Philosophie beschäftigen, wenn kein Erklärungsbedarf für die Welt und das individuelle Dasein besteht?

Vor fast einem halben Jahrhundert hatte ich eine beruflich und privat extrem schwierige Zeit zu durchleben. Es ging mir schlecht, ohne wenn und aber. Alle bisher erworbenen Strategien griffen nicht.

Damals hörte ich das erste Mal den Begriff Meditation. Ich fand in einer kleinen Buchhandlung ein Buch, das mich ansprach, kaufte es und mein Leben begann sich zu verändern.

Bei diesem Prozess geht es nicht um Lösungen, sondern um die Suche. Lösung oder Bewältigung mag sich ergeben. Es ist sehr schwierig, an den Grundstrukturen der Persönlichkeit etwas zu verändern. Auch auf die Dauer haben wir wenig Einfluss, sie ist karmisch vorgegeben.

Dummheit ist nicht nur ein Privileg ungebildeter Schichten. Auch akademisch hoch Angesehene können dumm sein. Intellektuelles Wissen ist kein Zeichen von Weisheit, manchmal gerade das Gegenteil.

Die Suche in sich selbst kann zu einem besseren Verständnis der größeren Zusammenhänge führen und das ist in allen philosophischen Traditionen der Sinn des Lebens.

Ich sagte weiter oben, dass wir nicht hier sind, um Spaß zu haben. Paradoxerweise aber ist die Lebensfreude größer wenn wir durch die Sadhana die Gegensätze überwinden.

Siddharta Gautama wäre ohne das Leid, das er gesehen hatte und von dem ihn sein Vater so sorgfältig abschirmen wollte, nicht zum Buddha (der Erleuchtete) geworden.

 

 

 

Total Page Visits: 482 - Today Page Visits: 1