Der Guru

Wenn wir das Wort „Guru“ hören, denken die meisten von uns wahrscheinlich an einen bärtigen alten Mann, der im Lotussitz vor seiner Höhle in den Bergen sitzt und weise lächelt. Im ursprünglichen Sinn bezeichnet das Wort einen spirituellen Lehrer. Es heißt, dass der Guru zum Schüler kommt, wenn dieser für ihn bereit sei.

Im alten Indien sprach man von der Guru -Chela- Beziehung, der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler.

Hier scheint es angebracht, einmal kurz nachzudenken, was Spiritualität eigentlich ist. Normalerweise bewegen wir uns in der Realität der Sinneswahrnehmungen. Wir sehen, fühlen, schmecken und hören etwas und nehmen das als Tatsache hin. Spiritualität bedeutet, dass angenommen wird, dass hinter dieser wahrnehmbaren Realität noch andere, nicht mit den Sinnen erreichbare Prozesse ablaufen. Wir bezeichnen das als höhere Realität. Manche nennen es Gott.

Manchmal, in stillen Momenten ahnen, ja fühlen wir sogar, dass da noch „irgendwas“ Größeres um uns ist, aber meist gehen diese Momente schnell vorbei und der Alltag hat uns wieder.

Nun ist es einsehbar, dass man mit dem üblichen Verhaltensrepertoire keinen einigermaßen dauerhaften Weg in diese spirituellen Sphären findet, deswegen verhalten sich spirituelle Lehrer oder sagen wir Gurus auf den ersten Blick etwas seltsam. Zum einen ist es so, dass der Guru nicht das geringste Interesse hat, jemandem etwas beizubringen. Er lebt sein Leben aus einer weiteren Perspektive heraus als normale Menschen. Und manchmal sagt er etwas und es steht dem Zuhörenden frei, es zu tun oder zu lassen. Es gibt viele Geschichten über Gurus und ihre Schüler. Eine der meist erzählten ist die, dass eines Tages ein Mensch zu einem Guru kommt und bittet: „Meister, lehrt mich den Pfad.“ Der Meister sieht den Aspiranten und schickt ihn in die Küche, um das Geschirr abzuwaschen. Er weiß auf den ersten Blick, um wes Geistes Kind es sich handelt. Hinterher muss er Feuerholz holen usw. Das geht so ein halbes Jahr und wenn der Schüler das alles klaglos und guten Mutes ausgeführt hat, kann es sein, dass der Meister eines Tages harsch sagt: „Setz‘ dich mal so und so hin und konzentriere dich bis ich wieder komme.“ Und der tut das dann auch. Heutzutage würde man zwischendurch auf die Uhr schauen oder seine E -Mails checken oder zumindestens fragen, wie lange und zu welchem Zweck man das machen soll.

Mit diesen Methoden wollte man die Ausdauer und Zielgerichtetheit (Abhyasa) des Aspiranten testen.

Der Guru kennt seinen Schüler und gibt ihm das „Futter“, das dieser in einem gegebenen Moment braucht, um weiter zu kommen. Als ich das erste mal im Yogainstitut in Bombay ankam, frühmorgens, nach einem langen Flug, erschlagen von der fremden Welt um mich, die Temperatur langsam in Richtung dreißig Grad ansteigend, wies mir mein Lehrer, Dr. Jayadeva Yogendra, mein Zimmer zu. Ich sah das Bett und stellte ärgerlich fest, dass da keine Bettdecke war. Als ich das monierte, sah er mich ruhig an und gab die Anweisung, dass man mir eine Wolldecke bringen möge. Kurze Zeit später hatte ich gelernt, dass man im indischen Monsun keine Wolldecke braucht. So läuft das.

Ein ganz anderer Aspekt bei der Sache ist der, dass wir gar nicht auf die Suche nach einem Guru gehen müssen. Wir haben ihn in uns, so wir ihn denn wahrnehmen wollen. Wir sind es gewohnt, unsere Erfahrungen in gut und böse, angenehm und unangenehm usw. aufzuteilen. Das, was Spaß macht ist gut, der Rest ist nicht gut! Haben wir uns eigentlich schon einmal gefragt, was passieren würde, wenn alles nur „Spaß“ wäre? Würden wir uns dann auch auf die Suche nach der „höheren Realität“ machen? Wozu sollten wir das tun, wenn doch alles passt?

Schauen wir genau hin. Jeder hat irgendetwas, was ihn bedrückt, irgendeine Erfahrung aus der Kindheit, die ihm auch im Erwachsenenleben zu schaffen macht. Wir haben tiefverwurzelte Ängste, Unsicherheiten usw. Wir alle streben nach Glück und nach Ganzheit. Also machen wir uns auf den Weg, die Hindernisse wegzuräumen. Das kann ein lebenslanger Prozess sein. Im Zuge dieses Entwicklungsprozesses machen wir diverse Erfahrungen, wir lernen uns und unser Potential kennen. Wir merken, dass selbst kleine Entwicklungsschritte neue Stärke in uns frei setzen. Das gibt die Kraft, immer wieder kleine Schritte zu gehen.

Ich erinnere mich an eine Nacht vor nunmehr fünf Jahrzehnten. Wir waren im April mit einem Segelboot in der Ostsee unterwegs. Es war eiskalt bei 6 Windstärken und nur eineinhalb Meter Wasser unter dem Kiel. Der Motor war ausgefallen, Rettungsausrüstung war nicht an Bord und wir hatten die Orientierung verloren.

Klar war, wenn das Boot Grundberührung hat, wird der Kiel weggerissen, Wasser tritt ein und bei diesen eiskalten Temperaturen dauert es höchstens eine halbe Stunde, bis es aus ist. In so einer Situation fängt man an zu beten. Ich habe das nie mehr vergessen und so ist aus einer Notsituation wieder ein kleines Bausteinchen entstanden – für den Weg.

Das Leben in uns und außerhalb von uns ist der Guru. Man muss nur hinhören.

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