Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Zeit für einen Rückblick und vielleicht für eine Vorausschau auf das Kommende.
Die Frage aller Fragen: Wo stehe ich?
Ich las neulich einen recht interessanten Artikel. Darin sprach der Autor von einem „weißen Blatt“, das am Morgen jeden Tages den Menschen als Totale darstellen solle. Weiß und blank wie ein neugeborenes Lämmchen, so soll in den Tag gestartet werden, frei von dem Ballast des Vergangenen, aber auch frei von Sorgen und Befürchtungen des Zukünftigen.
Ganz im Moment leben, das alte Ideal. „Be here now“ hieß ein Bestseller aus den siebziger Jahren.
Der Autor des genannten Artikels bemühte sich auch um diverse Vergleiche, um seine Aussage zu verstärken. Er meinte, was denn der Mensch sei im Vergleich zum Universum, zu den Sternen und den Sonnen. Natürlich ein Nichts, was sonst? Also Menschlein, nimm dich nicht so wichtig! Wenn du einst gegangen sein wirst, kräht kein Hahn mehr nach dir. Nach spätestens drei Generationen wird sich niemand mehr an deine Existenz erinnern.
Natürlich hat er recht – einerseits, andererseits auch wieder nicht. Im Hinduismus gibt es den mystischen Berg Meru. Er stellt das Zentrum der Welt dar. Gleichzeitig symbolisiert er im Kundalini-Yoga das Aufsteigen der Schlangenkraft im Susumna-Nadi entlang der Wirbelsäule, hinauf zum letzten Chakra, dem Tausendblättrigen Lotos. Hier haben wir die Analogie, dass der Mensch ein Abbild des Universums ist. Wir kennen auch aus der Bibel das Wort „Gott schuf den Menschen sich zu Bilde“. Ebenfalls hier das Kleine als Abbild des Großen.
Auch unser subjektives Empfinden zeigt, dass wir uns als den Mittelpunkt der Welt empfinden, oder anders ausgedrückt, als ein Wesen von eigenem, unverwechselbarem Wert.
Es ist also kein Weg, das „weiße, reine Blatt“ in uns zu verwirklichen, indem wir uns als Nichts im Vergleich zum großen Ganzen empfinden sollen.
Im Grunde beschreibt der Autor das höchste Ziel des Yoga, nämlich das unberührt Bleiben von äußeren Einwirkungen, das nicht Festhalten an inneren und äußeren Impressionen, das Loslassen.
Der Weg dahin ist im Achtfachen Pfad des Yoga beschrieben. Die meisten von uns können oder wollen ihn nur teilweise oder halbherzig beschreiten, weil die unerbittliche Konsequenz in der Lebensführung abschreckt.
Aber wir können trotzdem eine ganze Menge tun, um unser Denken, und das ist ja mit dem leeren Blatt gemeint, weniger konfus zu machen.
Ich habe früher schon einmal folgendes Bild beschrieben: Stellen wir uns ein durchsichtiges Gefäß mit blauer Tinte gefüllt vor. Unten ist eine kleine Bohrung, aus der die Flüssigkeit in einem schmalen Rinnsal ausläuft. Gleichzeitig wird von oben in gleichem Maß eine klare Flüssigkeit zugeführt. Allmählich wird die Flüssigkeit im Gefäß immer heller, bis sie schließlich glasklar ist.
Dieser Prozess wird im Yoga mit Swatyaya bezeichnet. Manchmal wird er auch als Selbststudium übersetzt. Es geht darum, in das „Gefäß“ Denken nur das hinein zu lassen, was einen voranbringt. Hier kommt jetzt wieder das zu tragen, was der oben genannte Autor in seinem Artikel sagt, nämlich, dass wir in einem Sinn doch nur kleine, unwichtige Partikel im Weltgeschehen sind und es völlig egal ist, ob wir mit dem Treiben der Großen dieser Welt einverstanden sind oder nicht. Sie fragen uns nicht und wir sollten genau darauf achten, was wir von ihrem Treiben in unser Denken lassen, ohne uns mit Negativität zu füllen.
Statt dessen sollten wir uns dort engagieren, wo wir Einfluss haben, wo wir etwas bewirken können. Heutzutage kennen wir den Begriff „chillen“. Im Grunde ist das ein Synonym für Zeit totschlagen. Es gibt soviel Sinnvolles zu lesen, Bücher, die unser Denken positiv beeinflussen, die uns etwas über uns sagen und unseren geistigen Horizont erweitern.
Mir einem Satz: Achtsam sein, was wir „hinein füllen“ bringt uns schon auf eine weit höhere Ebene und dem „leeren Blatt“ etwas näher.
Das muss nicht mit tierischem Ernst angegangen werden. Jeder sollte für sich selbst entscheiden, was für ihn negativ oder positiv wirkt.
Das ist wirklich ganz verschieden.