Die Szene ist einigermaßen makaber. Der Feldgeistliche steht vor den zum Angriff angetretenen Truppen und ruft den Beistand Gottes für die bevorstehende Schlacht herbei. Gott mit uns! Auf der anderen Seite geschieht genau das Gleiche. Gott mit uns und der gerechten Sache!
Konstantin dem Großen erschien die Vision des Kreuzes vor der Schlacht an der Milvischen Brücke gegen seinen Widersacher Maxentius im Jahre 312. Ihr verdankte er den Sieg über den Feind, so glaubte er.
Was wurde mit dem armen Maxentius? Er hatte wohl einfach aufs falsche Pferd gesetzt! Wie kann es das aber geben, da es doch nur einen Gott gibt? Ich sehe ja noch ein, dass Gott eventuell etwas sauer war, dass sich Maxentius an die Konkurrenz (die es ja eigentlich nicht gibt) wandte. Aber die tausende von Männern, die sich der Entscheidung einfach beugen mussten, weil sie nun mal in Maxentius‘ Heer waren. Selber schuld, hätten sich halt vorher informieren sollen.
Kann sein, dass mich manche heute für zu kritisch und defätistisch halten. Ich bin aber noch nicht fertig. Bei uns in der christlichen Religion wird erwartet, dass wir jeden Tag, an dem es uns gut geht und wir nicht vom Fahrrad fallen, dankbar sind, denn – das ist ein Geschenk Gottes – alles Gute kommt von ihm. Was ist aber mit dem Schlechten oder sagen wir mal präziser, dem sogenannten Schlechten? Sogenannt deswegen, weil das ja kleine göttliche Hinweise sind, mit denen er uns sanft zu unserem wahren Glück hinlenkt. Laut Hiob müssen wir also auf jeden Fall dankbar sein.
Der Mensch denkt, Gott lenkt. Jeder kennt diesen Spruch. Dahinter steckt, so kommt es mir vor, dass Gott schon weiß, was für mich gut ist. Wo bleibt da der viel gepriesene freie Wille?
Mir kommt es so vor, als wenn wir mit dieser Betrachtungsweise in Bezug auf Gott nicht recht weiter kommen. Wenn ich jetzt auch noch auf all die Drohungen eingehe, die ich auf mich herab beschwöre, wenn ich ungehorsam bin (was immer das ist), dann droht ewiges Schmoren in der Hölle, mindestens. Also ich habe auch Kinder, die ich wirklich liebe. Es kam schon mal vor, dass ich mich über sie geärgert habe, aber sie dafür mit ewiger Verdammnis bestrafen? Das wäre mir nicht mal im Traum eingefallen. Gott aber trauen wir das zu. Wenn ich er wäre, würde mich das ärgern:
„Was halten die denn von mir? Da versichere ich ihnen meine ewige Liebe und sie trauen mir so was zu! Ich hätte gute gute Lust auf eine kleine Sintflut.“
Wenn wir Gott personalisieren, erfassen wir nicht sein Wesen.
Vor einigen Jahren waren wir in Südindien unterwegs und kamen auch in die Stadt Tiruvannamalai. Dort, auf dem Berg Arunachala, verbrachte der große indische Heilige Shri Ramana Maharshi in einer kleinen Nische oder höhlenartigen Zelle den Großteil seines Lebens. Unten in der Stadt ist auch der riesige Arunachalesvara Tempel. Über den Eingangstoren an jeder der Längsseiten sind riesige Gopurams (Tortürme). Wenn man davor steht, erschauert man vor Ehrfurcht. Abends in der lauen Dämmerung hatten die Tempelhöfe eine zauberhafte Atmosphäre. Gruppen von Pilgern schlenderten herum. Familien mit Kindern waren da. Alle waren freundlich und lächelten. Wenn es ganz dunkel wurde, sah man überall Lampen. Manchmal sprach uns auch ein Priester an und erklärte uns etwas.
Über all dem schwebte ein sich ständig wiederholendes Mantra: „Om namah shiwaya“. Es war nicht aufdringlich, etwa wie Kirchenglocken. Es waren tiefe Frequenzen, in denen es durch die Nacht schwang. Selbst als wir im Hotel waren und zum Fenster hinaussahen, konnte man es ahnen oder auch hören, ich war mir diesbezüglich nie sicher. Es durchdrang die ganze Stadt.
Ich hatte damals die Empfindung, „das ist Gott“. Ein großes Schwingen, das alles durchdrang, das in allem war, aus dem alles bestand. Diesem alles Durchdringenden ist es vollkommen egal, ob Konstantin oder Maxentius gewinnt. Ob Gerhard dankbar ist oder nicht. Man kann sich diesem Schwingen öffnen oder kann es bleiben lassen. Es ist die eigene Entscheidung. Da gibt es auch nichts zu erbitten oder zu danken, denn es ist die Schöpfung an sich, deren Teil jedes oder jeder ist.
Robert M. Piersig schrieb vor vierzig Jahren in seinem Buch: „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ von den „eiskalten Höhen des Geistes“. Dort ist man, wenn man die Kindergartenvorstellung von Gott verlässt. Gott ist nichts Personales, welches gibt oder nimmt.
Man steht, wenn man eine Ahnung von dem erfasst, davor und denkt: „So ist das also.“ Dann wird einem klar, dass es ganz alleine die eigene Entscheidung ist, mitzuschwingen oder nicht. Dem Om ist das gleichgültig.
Konzepte verblassen vor dieser Erkenntnis. Karma, Ewigkeit, Leben nach dem Tod. Ist das alles richtig oder falsch? Keiner weiß es.
Im Zazen sitzt man einen Meter vor einer weißen Wand und sieht sie mit halb geschlossenen Augen an. Dieser Vorgang ist ein Symbol dessen, was ich hier zum Ausdruck bringen will.