Das Ich und die Anderen

Vor ein paar Jahrzehnten gab es einen Bestseller von Robert M. Pirsig: „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“. Darin wurde folgende Sequenz beschrieben: Ein Pärchen fährt mit seinem Motorrad an einem sonnigen Tag, gleich vielen Anderen, hinaus in die idyllische Landschaft. Im Zuge der Fahrt durch die laue Luft des Sommers werden sie immer säuerlicher: „Unmöglich, all diese Leute! Was wollen die denn alle hier? Sollen doch zuhause bleiben!“

Man tut etwas und ist bass erstaunt, dass andere Leute den gleichen Gedanken hatten. Na so was aber auch!
Heute Morgen bin ich mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und kam an etlichen Windrädern vorbei, die bei uns in großer Zahl im Zuge der Energiewende errichtet wurden. Dabei fielen mir die vielen Proteste ein, die inzwischen gegen diese Art der Energiegewinnung organisiert werden. Verspargelung der Landschaft heißt es. Viele Vögel würden durch die Rotoren getötet. Das mit der Verspargelung stimmt ja. Und das mit den Vögeln vielleicht auch. Aber, obwohl in unserer Gegend bestimmt an die fünfzig Anlagen stehen, konnte ich noch keinen toten Vogel entdecken.

Hier haben wir wieder dasselbe Phänomen wie bei dem Motorradausflug. Erdölverbrennung ist schlecht. Kohle ist ganz schlecht. Sonne ist ein unmögliches Zuschussgeschäft und Windkraft, das hatten wir gerade schon. Aber Strom, und das ohne Schwankungen und Ausfälle, wollen wir schon.

Ich finde es auch immer wieder amüsant, wenn ich junge Leute in fernen Ländern beobachte. Es gibt die feine Unterscheidung zwischen Travelern, das sind die mit dem Lonely Planet im Rucksack und den Touristen. Ich gehöre mittlerweile zu den Letzteren. Das bedeutet, dass ich einige Geringschätzung seitens der Traveler genieße, weil ich in guten Hotels residiere und im Mietauto oder mit meiner Reisegruppe im klimatisieren Reisebus unterwegs bin.
Traveler sein bedeutet in meiner Erinnerung Folgendes: Man steht in glühender Hitze als Tramper am Straßenrand. Ich werde das auf ewig mit dem italienischen Ort Viareggio verbinden. Man wohnt in schäbigen Absteigen. In Südindien habe ich in Zimmern mit Zugang zum Monsunregen für fünf Rupien übernachtet. Auch dass einem der Honig aus einem lecken Gefäß in einem tunesischen Bus aus dem Gepäcknetz auf die Schulter tropft, ist Quelle des Abenteuers. Dafür genießt man dann auch das Privileg, Individualist zu sein. Man rennt also zum Beispiel im 40 Grad dampfenden Singapur den ganzen Tag herum, auf der Suche nach einer Bootsverbindung in die indonesische Inselwelt.
Ein bisschen mehr Geld ist dann ganz schnell in der Lage, die Standorte der Betrachtung zu verändern.
In Selbsterfahrungsgruppen habe ich immer gerne folgende Übung durchgeführt: Zwei sitzen sich gegenüber und erzählen sich etwas Persönliches. Nach einiger Zeit werden die Plätze getauscht, man wechselt die Rolle und spricht in der Ich – Form als der Andere.
Es ist eine erstaunliche Erfahrung, wie das Verständnis für die andere Person steigt.

Nehmen wir ruhig ab und zu einen virtuellen Standortwechsel ein. Es hilft, eigene Denkstrukturen zu relativieren.

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