Zeit ist ein reißender Strom von vorübergehenden Ereignissen. Sobald eines auftaucht, wird es hinweg geschwemmt und ein anderes erscheint, was wiederum…
Dieser Ausspruch stammt von Marcus Aurelius, dem Stoiker auf dem römischen Kaiserthron. Die letzten zehn Jahre verbrachte er im Feldlager. Er beklagte dies, sah sich aber als Kaiser in die Pflicht genommen. Mich erinnert das an den indischen Helden Arjuna, der im Angesicht seiner Gegner, unter denen auch viele Verwandte und Freunde waren, mutlos wurde und das Schlachtfeld von Kurukshetra verlassen wollte.
Sein Wagenlenker Krishna erklärte ihm, dass jeder seine Pflicht zu tun habe. Wenn er diese ablehnte, bräche Chaos aus. Handeln aus Pflichtgefühl und nicht aufgrund von Gefühlen bewirke kein Karma, auch wenn es mit dem Töten von Feinden zusammenhängt, denn Töten gehört zum „Job“ des Kriegers. Dies ist die Basis des Karma Yogas aus der Bhagavad Gita.
Vor circa zwei Wochen flog ich in zehn Kilometern Höhe über Mogadischu, Hauptstadt des „failed state“ Somalia. Für uns Deutsche hat dieser Ortsname einen besonderen Klang. Am 13. Oktober 1977 wurde die Lufthansamaschine „Landshut“ von palästinensischen Terroristen entführt, um Mitglieder der terroristischen Vereinigung RAF aus dem Hochsicherheitsgefängnis Stammheim frei zu pressen. Nach der Geiselbefreiung durch die GSG 9 begingen Ensslin, Raspe und Baader kollektiven Selbstmord. Dies führte aus Rache zur Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer.
Ich lebte zu dieser Zeit in England und bekam nur aus Zeitungsmeldungen mit, was in Deutschland geschah. Später erschien der kritische Film: „Deutschland im Herbst“, der die Ereignisse schilderte. Wir sahen damals mit Schrecken, wie die geballte Macht des Staates gegen eine Handvoll Leute eingesetzt wurde. Hausdurchsuchungen, Telefonüberwachung, Schleierfahndung, Speicherung aller irgendwie Verdächtigen in Polizeidateien usw. Das alles kannte man vorher nicht und man war sehr sensibel, denn die Zeit des Naziterrors lag erst dreißig Jahre zurück. Wir überlegten damals, ob wir überhaupt noch in so ein Land zurückkehren sollten.
Szenenwechsel: Gestern gingen wir über den berühmten Nürnberger Christkindlesmarkt. Als wir schon dabei waren, ihn zu verlassen, sahen wir in einer Nebenstraße die große Postkutsche mit dem schweren Pferdegespann, die sonst immer durch den Markt über die Fleischbrücke fuhr. Jetzt ist das nicht mehr möglich, weil Polizeiabsperrungen für die Sicherheit der Besucher sorgen und das ganze Gebiet abriegeln. Der Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz gleicht einer Festung, wie es die „Zeit“ betitelt. Vor kurzem erst gab es den Mordanschlag auf dem Straßburger Weihnachtsmarkt und man erfuhr, dass es sich wieder um einen schon bekannten Gefährder handelte. Es gibt allein in Deutschland circa 2000 sogenannte islamistische Gefährder, deren Überwachung laut Bundespolizei pro Person 26 Polizisten erfordern würde. Ein Ding der Unmöglichkeit!
Jetzt stellt sich der Beobachter natürlich die Frage, warum diese Leute frei herumlaufen. Weil die Gesetzeslage so und so ist? Warum wird sie dann nicht geändert? Warum gefährdet man die eigene Bevölkerung? Heute steht in der Zeitung, dass man Erkenntnisse habe, dass Selbstmordanschläge auf allen 14 deutschen Hauptflughäfen drohen.
In einem Interview sagte ein Berliner Schausteller vom Breitscheidplatz, dass man sich den Weihnachtsmarkt nicht vermiesen lassen wolle: „Von denen doch nicht!“ Wenn wir genau hinschauen, ist das nicht richtig, denn wir schränken uns unmerklich ein. Die Feste werden einbetoniert. Abends joggt man nicht mehr durch den Park. Die Tochter wird vom Musikunterricht mit dem Auto abgeholt. Früher fuhr sie mit dem Fahrrad nach Hause. Die Postkutsche fährt durch Nebenstraßen.
Zurück nach „Mogadischu“. Wenn ich mir ansehe, mit welcher Macht man damals gegen eine Handvoll vorging, es mögen ca. 20 Personen gewesen sein, von denen man annahm, dass sie die Grundfesten des Staates ins Wanken bringen würden, und das mit den tausenden Gefährdern von heute vergleiche, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sagen, dass der Staat seine Pflichten nicht erfüllt und ein Krishna nicht in Sicht ist.