Carpe Diem oder was?

Img 20231216 084006Jeder kennt mittlerweile den Satz: „Carpe Diem“. Wer ihn hört, nickt entweder weise oder nachdenklich oder mit leisem Bedauern. Alle sind dann fest entschlossen, diese Weisheit mehr zu beachten – ab morgen.

In der Regel interpretieren wir diese zwei Worte als Erinnerung, unsere Möglichkeiten, das, was das Leben uns bietet, auszuschöpfen.

Das ist eine Missinterpretation!

Warum?

Weil wir dann meistens in eine hektische Rastlosigkeit verfallen, die uns vom wahren Sinn dieser zwei Worte abbringt.

Von meinem Guru, Dr. Jayadeva Yogendra, wird die folgende Geschichte erzählt: Sein Bruder Vijayadeva lebte in Australien und hatte dort ein Yogainstitut aufgebaut. Dr. wurde eines Tages von ihm eingeladen. Nach der Ankunft fühlten sich die dortigen Mitarbeiter verpflichtet, ein Sight-seeing Programm abzuspulen. Schließlich sollten die Besucher aus Mumbai auch was von Australien sehen und mit nachhause nehmen. Während der ganzen Tour saß Dr. mit geschlossenen Augen im Fond des Wagens und wirkte auf die enttäuschten Führer absolut desinteressiert.

Wie erlebt ein Yogi die Welt? Genau so, wie es die alte esoterische Weisheit ausdrückt: Wie innen, so außen! Yoga sagt, im Mikrokosmos des Bewusstseins ist der gesamte Makrokosmos des Universums enthalten.

Wenn ein Mensch also auf einer hohen Stufe sattvischen Bewusstseins existiert, was gäbe es für ihn noch im Außen zu erfahren? Kängurus, Koalas? Für ihn nichts anderes als Erscheinungen einer sich in permanentem Wandel befindlichen Materie.

Für die meisten von uns bedeutet Carpe Diem ein verstärktes nach Außengehen. Wir studieren Reiseprospekte, sehen im TV, dass einer den Yukon auf dem Floß hinabgefahren ist und denken, dass wir das jetzt auch tun müssten, weil der Floßfahrer ja wirklich Carpe Diem „macht“ und bei uns reicht es nur zu einer Pauschaltour auf dem Nil.

Das heißt, wir fangen auch noch an, uns mit Anderen zu vergleichen. „ Der carpt viel mehr als ich.“

Carpe Diem bedeutet: Lebe den Tag!

Leben heißt, in jedem gegebenen Augenblick so gut wie möglich „da“ zu sein. Da sein heißt, eine möglichst hohe Ebene der Konzentration zu halten.

Konzentration gebiert Bewusstheit!

Irgendwann habe ich eine schöne Geschichte des Zenmeisters Shunryu Suzuki gelesen, in der er die Handlungsweise eines Zenmeisters mit der eines Dichters vergleicht. Es ging dabei um ein Gedicht von Goethe oder Tennyson. Genau weiß ich das nicht mehr:

Eine Blume stand am Wegesrand. Der Dichter pflückt sie, um sie mit nachhause zu nehmen, um sich an ihr zu erfreuen.

Der Zenmeister jedoch lässt sie stehen, denn er erfasst sie im Augenblick in ihrer Totalität. Wozu sie also töten und mitnehmen?

Carpe Diem heißt wahrnehmen, nicht ausdrücken. Im Wahrnehmen des Augenblicks entfaltet sich das Große.

Aus dem Wahrnehmen ergibt sich ganz von selbst das nach außen Gehen. Nicht umgekehrt! Das wäre nur ein hektisches Umherirren.

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