Wohl jeder kennt den Spruch „Carpe Diem“ und alle nicken dann wehmutsvoll-weise und sagen: „Ja, ja, wir wissen es wohl, jedoch…“
Natürlich stimmt dieser Spruch. Etwas aus seinem Tag machen, was könnte man dagegen sagen?
Etliches!
Zum Beispiel deckt er sich mit all den Bemühungen, die wir aufwenden, um mehr Selbstwertgefühl, um mehr „im Augenblick sein“ und weniger in der Zukunft oder in der Vergangenheit herumhängen, denn, wie wir alle wissen, nur in der Gegenwart ist das Leben zuhause. Wir wissen auch, dass wir gerne in alten Mustern verharren. Diese Muster haben wir uns irgendwann als Überlebenstechniken in einer bestimmten Phase unseres Lebens angeeignet und da waren sie vielleicht auch nützlich, jetzt aber sind wir älter und wir verharren immer noch darin – weil wir sie kennen und der Mensch ist zwar fasziniert vom Neuen, aber es verursacht eben auch Angst und Unbehagen und deswegen krabbeln wir allzu gerne zurück ins bekannte warme Nestchen, obwohl wir genau spüren, dass uns das nicht gut tut.
Im Fernsehen und in den Medien wird uns die bunte ferne Welt ins Zimmer gebracht. Tolle Dinge werden von tollen Menschen dort draußen erlebt. Die fahren mit dem Schlauchboot den Colorado-River hinab, trekken durch den Himalaya oder tauchen am Great Barrier Reef vor Australiens Küsten.
Bei uns hingegen reicht es nur zu einer Pauschalreise nach Phuket und unser Spaziergang, den wir jeden Tag machen, ist immer derselbe.
Wenn wir genau hinfühlen, entdecken wir möglicherweise öfter eine leise oder auch deutlichere Unzufriedenheit mit unserem Dasein.
Hier sind wir am Knackpunkt der Geschichte angelangt.
Es ist nicht leicht, die Balance zwischen dem Wunsch oder auch der Sehnsucht nach dem Ausbrechen aus alten Mustern und der Fähigkeit, trotzdem Zufriedenheit und Glück in und mit unserem gegenwärtigen Dasein zu wahren.
Zunächst ist zu sagen, dass alles, was geschieht, seinen Wert hat. Jedes Stadium im Leben hat seinen Sinn und erscheint notwendig, denn sonst wäre es ja nicht so, wie es ist.
Jetzt mag mancher einwenden, wo denn dann der Unterschied zu dem sei, der in den Tag hineinlebt, morgens seinen ersten Prosecco süffelt und ansonsten sein Leben auf der Couch verbringt?
Die Antwort ist: Qualität ist nicht eine Frage von Quantität. Der immer gleiche Spaziergang kann täglich ein Universum von Lebensfülle hervorbringen, die dem, der gerade durch den Grand Canyon paddelt, weit überlegen ist.
In jeder Lebensphase ist es möglich, „ den Tag zu leben“.
Wichtig ist, die Fähigkeit zu entwickeln, immer wieder den gegenwärtigen Augenblick wahrzunehmen. Sicher, die Gedanken wandern schnell woanders hin, aber dann gehen wir eben wieder zurück ins Jetzt.
Immanuel Kant hat Königsberg nie verlassen. Er ging sein Leben lang immer denselben Spazierweg und immer zur gleichen Zeit. Die Leute stellten ihre Uhren nach ihm.
Glaubt einer, dass sein Leben eingeschränkt gewesen sei?
Eine kleine Meditation jeden Tag kann helfen, bei sich zu sein und die Fülle des Augenblicks wahrzunehmen.
Es liegt in der Natur des Menschen, immer mehr zu wollen. Fahren wir mit dem Schiff an einer nächtlichen Küste entlang, wollen wir dort sein. Sehen wir von eben dieser Küste auch die fernen Lichter eines Schiffes, denken wir, wie schön es wäre, auf diesem Schiff zu sein.
Einige Minuten täglich zu festen Zeiten dem Atem lauschen, einige Minuten meditatives Innehalten wirken Wunder und lassen uns wahrnehmen, wie reich das Leben ist.
Auch außerhalb des Himalayas!