Es gab im Mittelalter einen Mystiker namens Jakob Böhme, seines Zeichens Schuhmachermeister.
Früher waren die Werkstätten der Schuhmacher noch nicht so hygienisch neonerleuchtet wie heute. Dunkel und mit dem typischen Geruch nach Leder, Pech und Leim vollgesogen, hatten sie etwas geheimnisvolles an sich. Die Älteren unter uns werden diese Atmosphäre noch kennen gelernt haben. Vor dem niederen Tisch der durch eine Arbeitslampe erhellt wurde, saß der Meister. Der übrige Raum lag in zwielichtigem Dunkel. Zu Böhmes Zeiten, als es noch keine Elektrizität gab, bestand die Lampe aus einer Kerze oder einem Kienspan. Um die Lichtausbeute zu erhöhen, war an der Lichtquelle ein Spiegel angebracht, der die Flamme reflektierte und streute. Als Böhme eines Tages wieder einmal sinnend, über seine Arbeit gebeugt, auf seinem Schemel saß, fiel sein Blick auf die dunkle Wand vor ihm, auf die ein heller Lichtkreis der Arbeitslampe fiel. Dies war der Moment einer blitzartigen Erkenntnis. Damit der Lichtkreis sichtbar werden konnte, war die dunkle Wand notwendig. Übertragen ins Allgemeine bedeutet das, dass es nichts ohne das jeweils Andere gibt.
Wer jeden Tag gut isst, kann die besondere Delikatesse nicht mehr schätzen. Es heißt, dass man vor dem Höhepunkt aufhören soll. Darin kommt die Ahnung zum Ausdruck, dass nach dem Hoch das Abflachen und schließlich das Tief kommt. Kein Mensch ist in der Lage, immer im gleichen Gemütszustand zu bleiben, auch wenn wir uns das scheinbar wünschen. Wenn du zum Beispiel mit einem geliebten Menschen zusammen Zeiten höchsten Glücks und Harmonie erlebst, und du dir wünschst, dass sie nie enden mögen, wirst du dich schließlich dabei ertappen, dass du dich wieder nach dem allein sein sehnst und wenn es nur für kurze Zeit ist. Vielleicht entsteht durch dieses Sehnen eine leichte Disharmonie in der Beziehung und bietet einen willkommenen Anlass, dich zurückzuziehen. Wer weiß, vielleicht ging es deinem Partner im geheimen ähnlich. Vielleicht habt ihr unbewusst beide auf eine Auflösung oder zumindest eine Lockerung des symbiotischen Zustands hingearbeitet. Die menschliche Psyche geht oft sehr trickreiche Pfade, um einen Ausgleich herzustellen. Zu große Nähe bedeutet Abhängigkeit und Aufgabe der eigenen Person. Die Natur, die nach Polaritätszyklen abläuft greift hier unwillkürlich ein. Wenn wir lernen, diese Gesetzmäßigkeiten zu verstehen, können wir den vollen Nutzen für unsere Weiterentwicklung daraus ziehen.
Bleiben wir noch etwas bei unserem Beispiel.
Nachdem du jetzt also wieder etwas Distanz hast, wendest du dich irgendeiner Sache zu, die auch wichtig ist. Vielleicht ließt du irgendwas, machst dir ein paar Notizen und kommst dabei auf Gedanken die dein Leben bereichern? Wer möchte im Nachhinein entscheiden, was an diesem Prozess gut oder schlecht war? Beide Teile des Erlebens hatten ihre Schönheit und ihren Sinn. Wie oft machen wir es uns aber schwer, indem wir die Änderung nicht akzeptieren. Wir sind sauer, machen dem anderen Vorwürfe und trauern dem Gewesenen nach. Hier kommt das Tamas-Guna, das Träge und Beharrende wieder ins Spiel. Änderungen in unserem Erleben ergeben sich durch unseren Widerstand nicht. Das Vergangene lässt sich nicht mehr zurückholen. Das einzige, was wir erreichen ist, dass alles länger dauert und schmerzhafter wird. Nicht zuletzt deshalb, weil wir, auf das obige Beispiel bezogen, eventuell einiges Porzellan in der Beziehung zerschlagen. Aber auch das hat seinen Sinn. Schönwetterbeziehungen mangelt es an Tiefe. Es scheint in Beziehungen dann gut zu laufen, wenn sich beide einig in der Unterschiedlichkeit sind. Diese Einigkeit setzt ein gegenseitiges Verstehen voraus. Dieses wiederum bedeutet die Fähigkeit, über den eigenen Schatten springen zu können, das Ego also zu transzendieren. Hier wird wieder deutlich, wie menschliches und spirituelles Wachstum Hand in Hand geht.