Der lange Weg

IMG_20190913_144114Kennen Sie den? Zwei Freunde treffen sich nach einigen Jahrzehnten wieder. Sagt der eine zum anderen: „Du hast dich überhaupt nicht verändert in all den Jahren.“ Sagt der andere: „Willst du mich beleidigen?“

Eine andere Geschichte geht so: Ein Fremder kam zu einem Zenkloster in den Bergen Japans und begehrte, den Meister zu sprechen. Man sagte ihm, dass dieser im zentralen Innenhof des Klosters zu finden sei. Der Fremde ging wie ihm geheißen und traf dort aber nur einen alten Mann, der das Laub zusammenfegte. Auf weiteres Nachfragen wurde ihm gesagt, dass das der Meister sei. „Wie kann es sein, dass man einen heiligen Mann mit einer derart niederen Arbeit beschäftigt?“

Die Antwort, die ihm zuteil wurde: „Für einen Wissenden sind alle Dinge gleich.“

Beide Beispiele haben in irgendeiner Weise mit Zeit zu tun. Der weise Zenmeister begnügte sich sicher nicht schon von Jugend an mit so einer anspruchslosen Beschäftigung wie Hofkehren. Auch er wird Ambitionen und Pläne von Ruhm und Erfolg gehabt haben.

Aber, so scheint es, im Lauf der Jahrzehnte werden sich Veränderungen in den Sichtweisen auf die Dinge dieser Welt ergeben haben. Die Ambitionen der Jugend werden sich langsam, wenigstens teilweise, erfüllt haben. Er wird wohl viele Male immer wieder an denselben Barrieren gestanden sein und bemerkt haben: „Da war ich doch schon einmal, muss ich denn das immer und immer wieder erleben?“ Zorn, Wut und Resignation werden keine Unbekannten für ihn gewesen sein.

Jedoch, das Leben hat seinen eigenen Rhythmus. Es lässt sich nicht anschieben. Die Aufgaben, die uns unser Karma auferlegt, müssen erledigt werden. Denken wir daran, wir selbst haben es verursacht.

Wenn wir den Indern glauben, haben wir alle schon einen langen Weg hinter uns. In der Bhagavad Gita steht, dass nichts an Entwicklung verloren geht. Angenommen, ein Mensch hat jahrelang in einem früheren Dasein ein spirituelles Leben geführt und kam aus dem einen oder anderen Grund davon ab. Krishna sagt zu Arjuna, dass davon nichts verloren gegangen ist. Alle Erfahrungen sind vorhanden und irgendwann wird der Mensch zu diesen Erfahrungen zurückkehren und weitergehen. In uns allen ist ein Nucleus, der in uns glüht und die Sehnsucht nährt, in Richtung Erkenntnis weiter zu schreiten.

Wenn man ein langes Leben hinter sich hat, hat man unendlich viel erlebt, gesehen, gedacht und gefühlt. Wir neigen dazu, Erfahrungen, die wir als schön oder positiv erleben, immer wieder zu reproduzieren. Natürlich spüren wir nach einiger Zeit, dass die Befriedigung von früher nicht mehr so toll ist. Wie heißt es in dem Blues? „The thrill ist gone“. Das Gesetz der abnehmenden Befriedigung ist ohne Erbarmen. Aber, auch wenn wir das merken, hören wir noch lange nicht auf und rennen wie die Ratten im Labyrinth immer wieder an dieselben Barrieren.

Ich bin viel gereist in meinem Leben. In letzter Zeit merke ich immer häufiger, dass ich denke: „Ein Palmenstrand, der wievielte ist es? Noch ein Dschungelpfad mit bunten Vögeln. Eigentlich reicht es.“

Das ist dann vielleicht der Zeitpunkt, wo wir uns dem Verhalten des alten Zenmönchs nähern und feststellen, dass es tatsächlich keinen Unterschied macht, ob wir Hof kehren oder der Heckwelle eines Dampfers in die Ferne des Ozeans nachblicken.

Aber – der Weg dahin ist lang und kann nicht abgekürzt werden.

Ich mag den Schauspieler Ben Affleck. Man sagt, er habe ein Alkoholproblem und stürze immer wieder ab. Dann verschwindet er für einige Zeit aus der Öffentlichkeit und geht in einen Entzug. Wenn er wieder auftaucht, sagen alle, dass er seine Alkoholsucht überwunden habe.

Das mag stimmen, muss aber nicht. Dieses Karma geht so lange wie es geht und niemand kann es abkürzen.

Manchmal, zu bestimmten Zeiten des Lebens aber spüren wir, dass sich eine Tür öffnet und wir können hindurch schreiten. Wir merken, dass wir die Chance geboten kriegen, eine neue Stufe zu betreten. Wir merken, dass wie durch Zauberhand ein sehr lang wirkendes Karma von uns genommen wird. Wir sollten diesen Augenblick unbedingt nutzen. Er kommt nicht so schnell wieder. Ich bezeichne solche Momente als Sternstunden des Lebens.

Manchmal kommt es aber auch vor, dass uns die Tür für einen Augenblick geöffnet wurde und wir einen Blick auf die andere Seite tun dürfen, und dann geht die Tür wieder zu und wir müssen zurückkehren.

Dann sollten wir die Erinnerung behalten und sie als Motivation benutzen, denn – offensichtlich war es noch nicht so weit.

 

 

 

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