2aIch möchte hier näher auf die Chandogya Upanischad eingehen. Sie enthält die wohl bekannteste Aussage aller Upanischaden und damit die Essenz der dort immer wieder behandelten Fragen: „Tat Tvam Asi – Das bist Du!“
Die Geschichte erzählt von dem zwölfjährigen Svetaketu, der von seinem Vater in den Ashram ( Einsiedelei oder Kloster) eines Guru zur Unterweisung geschickt wurde. Nach zwölf Jahren der Unterweisung kehrt Svetaketu voll Stolz auf sein Wissen nachhause zurück. Wir erleben hier einen Vorgang, der für Menschen wohl zu allen Zeiten symptomatisch war, nämlich die Überschätzung von intellektuellem Wissen. Dies bringt uns zu der Frage, was zu lernen sich eigentlich lohnt? Wir haben im Leben eine bestimmte Zeit zur Verfügung. Womit füllen wir sie? Hat die Zeit eventuell eine Bedeutung für uns? Warum leben Menschen eigentlich unterschiedlich lange? Der eine hat die Gene, der andere eben jene, mag jetzt die allgemeine Antwort lauten. Aber warum? Ist das nicht ungerecht, wenn es denn so wäre? Ja aber gemach – hat denn irgendeiner behauptet, dass es auf der Welt gerecht zugehe? Hat die uns zugemessene Zeit vielleicht mit den Inhalten zu tun, die wir in dieser Zeitspanne zu erledigen haben? Wenn dem so wäre, und ich fände diesen Gedanken sehr sympathisch, dann hätte keiner Grund sich über die ihm zur Verfügung stehende Zeit zu beklagen, denn es wäre leicht einsehbar, dass für unterschiedliche Aufgaben, unterschiedliche Zeitspannen zu Verfügung stehen. Allerdings ist dann die gewichtige Problemstellung gegeben, dass jeder Mensch diese Zusammenhänge erkennen und für sich eine adäquate Lösung finden muss.
Letztlich geht es um den Sinn des Lebens. Seit es Menschen gibt, gibt es dafür diverse Antworten. Die einen sehen ihn im Erfolg. Die anderen wollen soviel wie möglich erleben und von der Welt sehen. Nur nichts anbrennen lassen, lautet die Devise für viele.
Genau um diese Fragestellungen geht es in unserer Geschichte. Es passiert jetzt nämlich folgendes: Der Vater, ein weiser Brahmane ist entsetzt über die Überheblichkeit seines Sprösslings und stutzt ihn umgehend auf Normalmaß zurecht indem er ihn auf die ultimative Fragestellung hinweist: „ Svetaketu, mein lieber Sohn, hast du dich mit der Wesenheit, durch deren Kenntnis das Ungehörte ein schon Gehörtes, das, worüber man noch nicht nachgedacht hat, ein schon gekanntes wird, und selbst das, welches unbekannt ist, bekannt wird?“
Ungleich zu heute, wo der Junge sich denken mag: „Worüber redet der Alte?“, bittet Svetaketu, unfähig, die Fragestellung zu begreifen den Vater, ihn zu belehren. Hier nun beginnt die zweite Stufe der Ausbildung. Svetaketu wird bewusst, dass er die Essenz der Veden nicht erkannt hat, vielmehr Gelehrsamkeit mit echter Erkenntnis verwechselt hat. Der Vater erklärt: „ Wenn man einen Scherben Ton genau studiert, erkennt man, dass alles andere, was auch aus Ton ist nur ein Spiel mit Worten ist. Dasselbe ist es mit einem Goldnugget. Studiere ihn genau und du siehst, dass jedes Goldgeschmeide, mit seinen Ornamenten und Verzierungen nur unterschiedliche Formen derselben Grundsubstanz sind. Erkenne die Eigenschaften eines Stücks Stahl und du siehst, dass alles was jemals aus Stahl geschaffen werden könnte, ist nichts anderes, als ein Spiel mir Namen und Formen. Genauso, mein Sohn verhält es sich mit dieser Wesenheit, von der ich sprach. Wenn du sie erkennst, dann erkennst du alles in diesem Universum und siehst, dass die Unterschiede der Erscheinungsformen nicht mehr sind als mannigfaltige Namen und Formen.
Wir sind hier an der zentralen Fragestellung aller Upanischaden angelangt. Gibt es eine Einheit hinter allen Erscheinungsformen, die das Universum hervorbringt? Diese Fragestellung ist faszinierend. Denn es ist unmöglich, alles was existiert zu studieren und zu erfassen. Warum also nicht radikal sein, und nach dem Urkern forschen und damit das Vielfältige erkennen? Wenn man an diese Fragestellung herangeht, dann bedarf es anderer Werkzeuge, als wenn ich die Erscheinungsformen studieren möchte. Möchte ich die Psyche verstehen, werde ich mich wohl psychologischer Techniken bedienen. Beim Studium verschiedener Werkstoffe benötige ich Hilfsmittel aus der Chemie, der Physik, der Metallurgie usw.
Je kleiner und zentraler der Forschungsgegenstand allerdings wird, desto schwieriger wird die Frage nach den Werkzeugen. Bisheriger Wissenstand bei den Grundelementen der Materie sind die Photonen, Neutronen und, noch tiefer die Quarks. Um hier weiter zu kommen, brauchen wir schon riesige Beschleuniger. Wenn wir noch tiefer kommen wollen, wird die Sache wieder „einfach“. Denn dann können wir uns eines Werkzeuges bedienen, welches wir sozusagen fest eingebaut haben, nämlich unser Denken.
Damit meine ich natürlich nicht das, welches wir normalerweise benutzen. Das, durch welches in einer Sekunde eine Vielzahl von Gedanken taumelt, angefangen von dem Wunsch nach einer Tüte Pommes bis zu Planung des nächsten Türkeiurlaubs. Nein, dieses Denken, dass wir dazu brauchen muss getunt werden.
Chitta vrtti nirodah, so wird in Patanjalis Yogasutren Yoga definiert. „ Yoga ist die Unterdrückung der Fluktuationen des Denkens.“ Wenn das Denken glasklar ist und sich ohne abzuschweifen auf einen Punkt richten kann, es also scharf wie eine Klinge den Wust von Gefühlen, Vorstellungen und Illusionen, die unser Bewusstsein ständig füllen durchschneidet, dann erkennen wir die hinter den Erscheinungen liegende eine Wesenheit. Diese Erfahrung können wir immer wieder machen. Jeder sieht die Dinge klarer, wenn sein Denken ruhig und in sich ruhend ist. Wenn das schon in der Alltagsebene erfahrbar ist, wie sollte sich diese Erfahrung nicht bis ins unendlich feine reproduzieren lassen?