Gestern Abend habe ich mal wieder lang und ausgiebig Musikvideos auf YouTube angehört und bin dabei auf das, man kann es nicht anders nennen, orgiastische „Free Bird“ von Lynyrd Skynyrd gestoßen. Das war ein Konzertmitschnitt aus dem Oakland Stadium in San Francisco von 1977. Beim Zuhören und -sehen kamen mir einige Gedanken, die mich nachdenklich machten. Es waren Tausende von jungen, begeisterten Menschen. Viele strahlende junge Frauen. Alle waren ausgelassen und fröhlich. Damals war Sommer in San Francisco und die jungen Frauen zumal waren meist leicht bekleidet. Keinen schien das zu stören. Keiner nahm Anstoß oder fühlte sich verleitet, übergriffig zu werden. Natürlich wird es auch dort einige Gestörte gegeben haben, aber in dieser europäisch-westlichen Kultur würde keiner auf den Gedanken kommen, dass sich Frauen verhüllen müssten, um die Männer nicht zu provozieren.
Ich glaube, wir sind uns gar nicht genug klar darüber, was das für eine kulturelle Leistung ist und wie viele Jahrhunderte der Emanzipation von Kirche und Staat es gedauert hat, bis wir da angekommen waren.
Es ist im Moment sehr en vogue, die Weißen für alles Übel dieser Welt verantwortlich zu machen. Kolonialismus, Sklavenhandel, Rassismus wegen der Hautfarbe sind beliebte Schlagworte. Da ist manches Üble geschehen. Man kann das nur aus der Zeit heraus verstehen. Damals herrschten Denkmuster, die heute nur noch schwer nachvollziehbar sind. Nehmen wir nur den Hexenhammer, ein Werk, welches die Verfolgung von sogenannten Hexen legitimierte. Natürlich gab es keine Hexen. Insofern landeten alle Frauen in den Folterkammern. Aber, und das ist schwer nachvollziehbar, man glaubte in der Tat, man tue der armen Kreatur etwas Gutes, denn auch wenn der Körper schließlich verstümmelt wurde und starb, durch das erzwungene Geständnis wurde die Seele errettet und das war es, was zählte.
Das alles ist Vergangenheit! Europa erlebte ab dem 15. Jahrhundert das Zeitalter der Renaissance mit der Rückbesinnung auf das Denken der Antike. Ab 1700 begann das Zeitalter der Aufklärung. Die Ratio trat an die Stelle religiöser Abhängigkeit. Worte wie Menschenrechte, Emanzipation und Bürgerrechte kamen auf.
Die Abolitionisten setzten sich ab 1761, beginnend in Portugal, für die Abschaffung der Sklaverei ein. Folter und Todesstrafe wurden in Frage gestellt.
Es war ein langer und erbitterter Kampf, der die Europäer und damit auch die Amerikaner hin zu der persönlichen Freiheit von Mann und Frau führte, wie wir es heute kennen und als selbstverständlich betrachten.
Ein wesentlicher Meilenstein war die Trennung von Staat und Kirche und die Eigenverantwortung in Glaubensfragen. Nach Jahrhunderten der Abhängigkeit, ausgelöst durch die Drohungen mit Hölle, Tod und Teufel, wurde der europäische Mensch ein freies, selbstbestimmtes Individuum.
Im Grunde geht dieser Prozess unablässig weiter. Auch die verschiedenen Jugendsubkulturen der Gammler, Hippies und Mods und wie sie alle hießen, gehören dazu. Es ging immer um das Aufbrechen autoritärer Strukturen. Manches wirkt heute übertrieben und wird sich sicher auf ein Mittelmaß einpendeln. Dazu gehören Teile der Genderbewegung wie die, m.E. übertriebenen Sprachvorstellungen.
Sünde wird manchmal definiert als ein Liegenbleiben und nicht wieder Aufstehen nach einem Fall. Also nicht das in Schuld Fallen gilt als Sünde, sondern das Verharren darin. Menschen sind fehlbar, auch wenn sie guten Willens sind. Der große Arzt und Humanist Albert Schweitzer sprach noch von „den Negern, die man an der Hand nehmen müsse“. So war die Zeit damals. Heute würde keiner mehr so sprechen. Aber deswegen braucht man nicht den Sarottimohr verdammen.
Europa hat durch Rassismus und Kolonialismus „gesündigt“, aber „wir bemühen uns“. Mehr kann man von Menschen nicht verlangen.
Insofern ist diese ständige Selbstgeißelung nicht nur nicht angebracht, sondern kontraproduktiv, denn aus Schuldzuweisungen entsteht selten etwas Gutes.
Wenn wir aus unserem Kulturkreis hinausschauen, sehen wir Kulturen, die diesen Prozess der Emanzipation und der persönlichen Freiheit noch nicht angetreten haben. Im islamischen Raum gelten die Menschenrechte nicht in dem Umfang wie wir es kennen. In Saudiarabien und in den Emiraten gibt es bis heute Sklaverei. In Katar wird 2022 die Fußballweltmeisterschaft ausgetragen. Tausende von Arbeitssklaven bauen die Stadien. In saudischen Haushalten werden junge Frauen misshandelt, ohne kündigen zu können. Usw., usw…
Man kann es drehen und wenden wie man will. Alle Impulse hin zu Humanismus und individueller Freiheit gehen von Europa aus.
Ich erachte es von daher als nicht erstrebenswert, wahllos möglichst viele Menschen aus anderen Kulturen hierher zu holen. Europa hat, wie gezeigt, einen einzigartigen Fortschrittsprozess seit dem Mittelalter durchlaufen. Er ähnelt auch dem Prozess, den das Individuum in einer Psychotherapie durchläuft.
Diesen Prozess kann man keinem abnehmen. Auch keiner Kultur und keinem Land.