Wir Blinden, Teil II

IMG_20200124_091635Der Begriff Avidya bedeutet im Grunde das Festhalten an Dingen, Situationen, Gedanken, Gefühlen und letztlich dem Leben.

Obwohl wir den fortwährenden Wandel ständig erfahren, versuchen wir, festzuhalten.

Wir sind verliebt in unsere Vorstellungen und Phantasien. Es genügt uns nicht, einfach zu sein. Zum Beispiel, einfach spazieren zu gehen und zu genießen, was wir sehen, hören oder riechen. Wir lassen unsere Gedanken schweifen, führen angeregte Gespräche und wenn wir uns an etwas Vergangenes erinnern, dann beißen wir uns mit Genuss fest, bauen die Gedanken daran aus und kreieren Zustände von Ärger oder phantasieren uns in Zukunftsideen.

„Einst träumte Zhuangzi, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Zhuangzi. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Zhuangzi. Nun weiß ich nicht, ob Zhuangzi geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Zhuangzi sei, obwohl doch zwischen Zhuangzi und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.“

Eine ähnliche Überlegung finden wir in der Mandukya Upanishad. Wenn wir im Wachbewusstsein sind, halten wir unsere Träume für irreal. Dabei haben wir sie im Traumzustand als vollkommen real erlebt – in unserem Traumbewusstsein. Wir sind überzeugt, dass nur der Wachzustand real ist.
Wir vergessen, dass ein Bewusstsein nicht über das andere urteilen kann.

Was lehrt uns das? Alles ist relativ! Wichtiger noch ist, wie gehen wir damit um? Wir erkennen an diesen Beispielen, dass die Dinge von unterschiedlichen Standpunkten oder auch Bewusstseinszuständen in verschiedenem Licht erscheinen. Hat jetzt der Schmetterling recht, oder der wieder erwachte Zhuangzi? Wobei wir ja erfahren haben, dass gar nicht sicher ist, welcher Zustand der wache ist.

Die Lösung ist, dass wir aufhören, zu beurteilen. So, wie der Schmetterling im „Schmetterlingszustand“ real ist, so ist jede Erfahrung real, zumindest innerhalb der Welt der Dinge.

Die einfachste und zutreffendste Definition von Yoga lautet: Yoga ist Konzentration. Uns muss bewusst sein, dass wir sehr, sehr selten klar wahrnehmen, was ist.

Für diese Behauptung können wir beliebig viele Beispiele finden. Angenommen, wir fahren nach Indien. Dann erwarten wir, dass wir erleben, was wir in Filmen und Geschichten erfahren haben. Durch diese Erwartungen sind die Eindrücke, die wir dann haben, getrübt und wir erkennen nicht die „Schätze“, die sich in anderer Art darbieten.

Der indische Yogi und Gelehrte Swami Hariharananda Aranya schreibt in seinem Kommentar zu Patanjalis Yogasutren zu Sutra II/30 zum Thema Wahrheit (Satya): „Es ist das Bemühen, das Denken und das, was man ausspricht, in Einklang mit dem korrekt Wahrgenommenem zu bringen.“

Das heißt, dass die Wahrnehmung vollkommen ungetrübt von Vorstellungen, Phantasien, Erwartungen und Gefühlen sein muss. Erst dann ist es möglich, wirklich zu „sehen“, was ist und es dann auch auszusprechen.

Nach dieser Definition reden wir samt und sonders am laufenden Band die Unwahrheit. Unser Denken ist selten klar und unvoreingenommen konzentriert.

Die meisten von uns kennen das Kinderspiel „Flüsterpost“. Alle stehen in einer Reihe und es wird ein Satz durchgegeben. Zum Schluss lachen sich alle schief, was dabei herauskommt.

Was nützen uns all diese Überlegungen nun? Sie können dafür sorgen, dass unser Leben mehr auf der Sonnenseite verläuft und weniger im Schatten. Wir wissen nicht, was hinter einer Situation steckt. Wir können sie nicht in ihrer Totalität erkennen. Es sind so viele Faktoren involviert, dass wir immer gezwungen sind, uns ein Segment herauszupicken. Das beurteilen wir und in vielen Fällen ärgern wir uns dann.

Wir leben gegenwärtig in Coronazeiten. Wir sind quasi ruhig gestellt. Nützen wir die Zeit dieser Verlangsamung dafür, etwas konzentrierter nach innen und außen wahrzunehmen – unmittelbarer und damit realer. Wir können zum Beispiel einen Baum ansehen und uns bemühen, ihn nicht mit einem anderen zu vergleichen, den wir einmal im Gebirge gesehen haben. Wenn wir das tun, erkennen wir ihn nicht, sondern sehen etwas, was nicht real ist.

Das Resultat ist, dass wieder ein Moment des Lebens nicht gelebt wird, denn wir sind „nicht da“.

 

 

 

 

 

 

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