Mit dem Herzen sehen

In dem großartigen Buch „Breaking News“ von Frank Schätzing fragt ein „Ungläubiger“ einen Gläubigen: „Ist Gott allmächtig?“

„Aber so was von!“

„Kann er auch einen Felsbrocken von der Größe der Erde auf dem Finger balancieren?“

„Logisch, er ist allmächtig.“

„Kann er auch einen Felsbrocken von der Größe des Universums auf dem Finger balancieren?“

„Keine Frage, ich hab’s dir doch schon gesagt.“

„Kann er auch einen Felsbrocken erschaffen, den er selbst nicht heben kann?“

„Äh, ehem…doch, er muss alles erschaffen können, denn sonst wäre er ja nicht allmächtig.“

„Also kann er auch diesen Felsbrocken erschaffen?“

„Jawollja!“

„Aber wenn er ihn nicht zu heben vermag, ist er nicht allmächtig.“

„Dann – kann er ihn eben doch heben.“

„Das heißt, er ist nicht in der Lage, einen Felsbrocken zu erschaffen, den er selbst nicht heben kann?“

Wir kennen solche Dialoge. Es ist ganz leicht, Verwirrung zu stiften. Etwa, wenn man die Bibelstelle hernimmt: „…und Kain ging in ein anderes Land und nahm sich eine Frau, nachdem er seinen Bruder Abel erschlagen hatte.“ Wie sollte das gehen, wenn es nur Adam, Eva, Kain und Abel gegeben haben soll?

Wir sind es gewohnt, die Welt mit dem Intellekt zu analysieren. Ein Baum ist ein Baum und der Nebel, in dem er schattengleich erscheint, besteht aus Wassertröpfchen, die mit zunehmender Sonneneinstrahlung verschwinden werden. Dieses Bild sieht der Verstand. In Wirklichkeit nehmen wir viel mehr wahr. Hermann Hesse schreibt: „Seltsam, im Nebel zu wandern! Einsam ist jeder Busch und Stein. Kein Baum sieht den andern. Jeder ist allein…“

Hier wird klar, dass unsere Wahrnehmung viel umfangreicher ist als die durch den Verstand wahrgenommenen Fakten. Wir haben bei all dem auch Gefühle und Stimmungen, die wiederum die Sinneswahrnehmung beeinflussen. Es werden Erinnerungen hervorgerufen, die sich vermischen und aus ganz verschiedenen Zeiten unseres Lebens stammen. Die Psyche kennt keine Zeit.

Aus dem Hatha-Yoga kennen wir den Begriff der Chakren. Sie sind entlang der Wirbelsäule angeordnet und symbolisieren die Ebene des Bewusstseins, die ein Individuum erreicht hat. Das Anahatachakra ist in der Höhe des Herzens angesiedelt. Hier begegnen sich Verstand und Gefühl. Es findet das scheinbar Unmögliche statt, nämlich die Weitung des Bewusstseins über das messerscharfe Sezieren der Wirklichkeit durch den Verstand hinaus.

Der Verstand rechnet, das Herz nicht. Der Verstand sagt: „Du hast, du bist, wenn du nicht, dann…“ Für den Verstand ist vieles unmöglich. Er begrenzt uns, engt uns ein. Im Yoga kennen wir den Begriff Artha. Das bedeutet Austausch. Ich tue irgendwas für irgendwen und erwarte dafür etwas. Über weite Strecken unseres Lebens funktionieren wir so. Glücklich sind wir nicht dabei, denn für jede Vorleistung erwarten wir eine Gegenleistung und wenn die nicht kommt, ist unser Bewusstsein mit Negativität verdunkelt.

Liebe auf der Artha- Ebene ist ein Austausch von Erwartungen. Genauso wie es klingt, fühlt es sich auch an, nicht gut. Als Menschen sind wir nicht gefeit, immer wieder auf dieser Ebene festzusitzen. Aber – nichts ist von Dauer. Immer wieder weckt uns das Anahatachakra und zeigt uns den Weg.

Nochmal zurück zu dem Beispiel mit dem Stein. Man kann Gott nicht mit den Sinnen erkennen, was wäre denn das für ein Gott? Man muss ihn mit dem Herzen sehen, vielleicht mittels des magischen Lichts eines Nebeltages. Und überhaupt, was ist allmächtig? Manchmal wir alle, denn immer, wenn wir verzeihen, transzendieren wir das Menschliche und sind gottähnlich.

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