Vor langer, langer Zeit, als die Menschen noch mit den Göttern sprachen und umgekehrt, geschah im vedischen Indien folgendes: König Sagara zelebrierte das mächtige Ashvamedha – Opfer, das sogar Macht über die Götter verhieß. Doch Indra, der mächtigste der Götter, der eifersüchtig über deren Macht wachte, ließ das Opfer misslingen, indem er das Opferpferd stahl und im Ashram des Heiligen Kapila verbarg. Dort fanden es die 60000 Söhne Sagaras und beschuldigten den Weisen des Diebstahls, worauf dieser in heiligem Zorn entbrannte und sie allesamt zu Asche verwandelte.
Generationen später unterzog sich Bhagiratha, ein Nachkomme Sagaras, einer 1000 jährigen Askese, um Ganga vom Himmel zu holen. Nur ihr Wasser konnte nach Kapilas Worten die Sünden der 60000 Söhne reinwaschen. So geschah es dann auch. Ganga stürzte ungestüm vom Himmel. Damit durch ihre Macht die Erde nicht Schaden nähme, fing sie Shiva, hier als Bewahrer, mit seinen Haaren auf, bevor sie die Erde erreichte.
So kam durch schlechtes Verhalten der 60000 und den Zorn des Heiligen der Ganges auf die Erde und wäscht seitdem die Sünden der Hindus hinweg.
Zorn gilt ja allgemein als etwas Negatives, das vermieden werden soll. Üblicherweise ist es angesehener, ruhig und unberührt die Widrigkeiten der Welt anzuschauen und ebenso zu handeln. So lehren es die Schriften: „Wenn dich einer auf die linke Backe schlägt, so biete ihm auch die rechte.“ So lehrt die Bergpredigt und so lehrt uns auch Yoga.
Hinnehmen und Ertragen sind hehre Werte auf dem spirituellen Pfad. Können wir Laien uns daran ein Beispiel nehmen?
Durch die Appeasement – Politik (Beschwichtigungspolitik) des britischen Premiers Neville Chamberlain, der Hitler im September 1938 im Münchner Abkommen das Recht einräumte, das Sudetenland zu besetzen, wurde dieser in seiner Aggressionshaltung bestätigt und marschierte in Polen ein, was dann zum Zweiten Weltkrieg führte.
Wenn man damals in München entsprechend hart reagiert hätte, hätte die Geschichte vielleicht einen anderen Verlauf genommen.
Zorn ist eine starke Emotion, verbunden mit Wut. Er heißt auch Grimm oder Groll. Zweifellos tut es dem Individuum nicht gut, allzu oft im Zustand des Grolls zu sein. Oft sind die Scherben nach einem Jähzornanfall schwer zu kitten.
Neben dem normalen Zorn kennen wir den Heiligen Zorn, von dem vorzugsweise Gott ergriffen wird oder gottgleiche Heilige wie Kapila. Hier sind die Folgen dann nass, wie bei Sintfluten oder heiß, wie beim Verwandeln in Asche.
Heiliger Zorn entsteht aus dem Anblick von Unrecht und Ungerechtigkeit.
Zorn, Wut, Ärger sind Gefühlszustände, die fließend sind. Sie sind nicht definitiv voneinander zu trennen. Wenn wir davon befallen sind, fühlen wir uns in der Regel nicht gut. Die Umwelt mahnt uns dann „cool down“ und fühlt sich meist überlegen: „Wie kann man sich denn da so aufregen?“.
Der allwissende Volksmund kennt den Ausdruck: „Da sollte man mal ein Donnerwetter loslassen.“ Das erinnert schon sehr stark an Zustände, die einen „gerechten Zorn“ rechtfertigen würden. Den gibt es also auch. Zweifellos war Kapila davon beseelt.
Fakt ist, dass ohne ihn der Ganges nicht fließen würde. Was schade wäre, da Benares dann nicht die Stadt wäre, die es ist.
Gute Taten zeitigen gute Wirkungen und schlechte Taten ergeben schlechte Wirkungen. Gutes Handeln wird gemeinhin mit Ruhigem, Emotionslosem assoziiert. Jeder Zornige, der sich über Ungerechtigkeit aufregt, wird allzu leicht Beute der überlegen dabei Stehenden, die mit weisem Lächeln ihr „reg‘ dich doch nicht so auf“ aufsagen. Dabei vergessen sie in der Regel, dass sie sich über anderes aufregen, das unseren gegenwärtigen Protagonisten kalt lässt.
Ein abschließendes Urteil will ich nicht abgeben, kann ich gar nicht, weil meine begrenzte Weisheit dazu nicht ausreicht.
Aber ein bisschen Nachdenken über das Gesagte wäre lohnenswert.