In früheren Zeiten gab es den Begriff Ehre. Das Wort gibt es zwar heute auch noch, aber es hat keine Bedeutung mehr. Es ist aus dem Wertesystem verschwunden. Als ich noch ein kleiner Junge war, hielten wir uns bei Konflikten an einen ungeschriebenen Ehrenkodex. Wenn sich einer beleidigt fühlte, forderte er den Beleidiger zum Kampf heraus. Wollte dieser nicht auf ewige Zeiten als Feigling gelten, musste er die Forderung annehmen, ob er wollte oder nicht. Während der Rauferei, die von der ganzen Klasse anfeuernd beobachtet wurde, galten feste Regeln. Wenn einer der Kontrahenten sagte: „Ich gebe auf“, dann verstieß es gegen den Ehrenkodex, falls der Stärkere nicht aufhörte. Man gab sich anschließend die Hand. Das mag alles recht antiquiert klingen, aber es scheint, als „Ehre“ abgeschafft wurde, sei nichts an ihre Stelle getreten. Dieses Vakuum tut nicht gut. Inzwischen wird auf am Boden Liegende eingetreten, Köpfe werden auf Randsteine geschlagen, ganze Gruppen schlagen auf einzelne ein usw… Natürlich hat der Begriff auch Schattenseiten. Im Namen der Ehre wurde fleißig gestorben. Wer sich nicht freiwillig zu den Waffen meldete, wenn der Kaiser rief, der galt als ehrlos auch wenn es vernünftig war.
Wir Menschen verehren den Helden. Wir mögen den Prinzen, der auf weißem Ross die Jungfrau aus den Fängen des Drachen rettet. Der Held setzt seine Ehre daran, die Wahrheit zu vertreten: „Hier stehe ich…“. In dem Westernklassiker „12 Uhr mittags“ stellt sich Gary Cooper auf der Mainstreet einer Bande von Banditen. Der Kampf ist chancenlos, aber die Ehre gebietet es, obwohl es die feigen Bürger der Stadt nicht verdienen.
Das Publikum sitzt atemlos im Saal und verfolgt die Handlung auf der Leinwand. Es möchte dem Helden zurufen: „Pass auf, hinter dir…“
Ähnlich spielt sich das richtige Leben ab. Mit Lust stürzen wir uns ins Gewühl, holen uns unsere blauen Flecken und fragen uns, wenn die unvermeidliche Ernüchterung einsetzt: „Hat sich das gelohnt?“ Macht nichts, nach einem Moment der Nachdenklichkeit tun wir es wieder. Es ist schon seltsam, dass Werte wie Gewaltlosigkeit, Sanftmut eigentlich wenig zählen. Als die Römer Jesus und Barabbas dem Volk vorführten, wählte dieses nicht den Sanftmütigen, sondern den Aufrührer.
Wahrscheinlich steckt noch viel Animalisches aus der Frühzeit der Menschheit in uns, als es noch darauf ankam, den Bären mit der Keule zu erlegen, um die Sippe zu schützen. Hat sich daran etwas geändert? Muss nicht die Mutter nach wie vor ihr Kind schützen, der Mann die Frau? Man möge mir das letztere Beispiel im Zeitalter der Emanzipation verzeihen, aber Männer sind nun mal körperlich stärker. Wir haben heute eine große Anzahl von Männern aus anderen Kulturkreisen in Deutschland, die sich über deutsche Männer lustig machen, weil die nicht mehr kämpfen wollen, sondern auf Dialog und niederlagelose Konfliktlösung setzen. Heißt das jetzt, dass das nur funktioniert, wenn sich alle an letztere halten? Sozusagen ein Funktionieren nur innerhalb eines goldenen Käfigs der höheren zivilisatorischen Werte?
Zu allen Zeiten gab es die Horden aus der Steppe, die satte Kulturen mit ihren zivilisatorischen Werten überrannten. Wobei „Steppe“ ein Synonym für die Hungrigen ist, die an die Fleischtöpfe der Habenden wollen. Man sehe sich nur die Völkerwanderung an. Da war die Hauptrichtung von Norden nach dem reichen Süden. Heute scheint mir, geht es in die umgekehrte Richtung. Wir werden sehen, ob die neuen Werte des sich aggressiv Nehmenden die in langen Jahren entwickelten Werte des Dialogs überrennen oder ob ein Prozess der Assimilierung möglich ist.
Bei all diesen Vorgängen und dem ganzen Welttheater sollten wir nicht vergessen, dass es über uns, in anderen Dimensionen noch Abläufe gibt, von denen wir keine Ahnung haben, von denen uns nur die heiligen und mythologischen Schriften erzählen. Nehmen wir Homers Ilias. Paris raubte die schöne Helena. Daraufhin rief Menelaos, der Prinz von Mykene und spätere König von Sparta, die Griechen zum Kampf gegen Troja. Ein Gemetzel gigantischen Ausmaßes hob an, bot aber auch einen Schauplatz für unsterbliche Heldentaten: Der Kampf des Hektor gegen Achill. Brad Pitt in einer seiner schönsten Rollen. Ajax, Odysseus und wie sie alle hießen. Alle beseelt von Ehre und Heldenmut. Und wofür?
Eris, die Göttin der Zwietracht, warf den sogenannten Zankapfel, einen Apfel mit der Aufschrift: „Der Schönsten“ unter die Gäste der Hochzeit des Peleus mit Thetis. Worauf sich Athene, Hera und Aphrodite stritten, wem der Apfel gebührt. Hermes führte die drei zu Paris, der entscheiden sollte. Dieser entschied sich für Aphrodite, die ihm dafür die schönste der Frauen, eben die schöne Helena versprach, die dazu auch noch mit Menelaos verheiratet war. Aber, wer wird sich schon an solchen Kleinigkeiten stören,
Also war die ganze Geschichte von den Göttern schon entschieden und unten auf der Erde ging es zur Sache um Ruhm und Ehre.
Solche Bilder sollten wir uns wenigstens ab und zu ins Gedächtnis rufen, wenn wir uns mit Hurra ins Getümmel stürzen.
Die Vedantaphilosophie spricht von der Maya Gottes, der Welt des Scheins und des Truges. Wir können es auch Fata Morgana nennen. Diese Illusion existiert nur, weil es die Sonne gibt.
Yoga empfiehlt Vairagya, das heißt Leidenschaftslosigkeit und Losgelöstheit: Eben nicht mit dem Helden auf der Leinwand zittern, sondern sich zurück lehnen im Bewusstsein, dass alle Ereignisse nichts als göttliche Maya sind.
Wir sehen an diesen Beispielen, wie viele Facetten ein Begriff wie Ehre hat. So ist es mit vielem. Eindeutigkeiten gibt es nicht oder sagen wir nur für die Unwissenden. Die Wissenden sollten sich dessen bewusst sein.