Alle Probleme, denen sich das Individuum ausgesetzt sieht, basieren auf der Annahme, dass es getrennt von allem anderen sei.
Wir fühlen uns angegriffen, wenn uns einer schief ansieht, wenn Andere Dinge, die uns wertvoll sind, nicht schätzen, wenn Andere anders argumentieren als wir usw.
Nach der Yogaphilosophie basiert dieses Verhalten auf einer falschen Grundannahme, nämlich, dass wir Objekte, die fließend sind als etwas Statisches ansehen. Dazu gehört auch das, was wir als unser Ich oder unseren Charakter bezeichnen. Wenn wir sagen „Ich“, gehen wir davon aus, dass das etwas Stabiles, Unwandelbares ist. Dabei übersehen wir, dass dieses Ich sich in ständigem Fluss befindet. Wir sind heute eine ganz andere Person als wir gestern waren, geschweige denn vor zwanzig Jahren. Laut Yoga zählt das Ich zur Materie. Und Materie ist in stetem Wandel, wie jeder sieht, wenn er sein neues Auto nach fünf Jahren anschaut.
Der wahre Mensch, auf Sanskrit Purusha, ist unwandelbar und von Anbeginn an vollkommen.
Wir bekommen eine Ahnung von diesem Purusha, wenn wir ganz still und konzentriert sind, das heißt, wenn die Fluktuationen des Denkens zur Ruhe gekommen sind. Jeder hat das schon erfahren. Plötzlich erscheinen uns Konflikte als gegenstandslos, einfach weil wir näher an diesen wahren Menschen in uns herangekommen sind.
Ich erinnere hier noch einmal an das bekannte Bild von dem Teich, dessen Oberfläche vom Wind bewegt wird. Wenn der Wind aufhört, können wir auf den Grund des Teiches schauen. Die kleinen Wellen an der Oberfläche sind unsere Gedanken, die in ständiger Bewegung sind. Hört das Gedankenrennen auf, sehen wir tiefer.
Daher auch die Definition von Yoga: „Yogas citta-vrtti-nirodhah. Yoga ist die Unterdrückung der Fluktuationen des Denkens.“
Die Gedanken zum Stillstand bringen, durch Atemtechniken, durch Asanas und durch eine auf der Abwesenheit von Gewalt basierenden Ethik, das ist Yoga.
Auch im Buddhismus finden sich interessante Ansätze, die Vereinzelung des Individuums zu durchbrechen. Hier heißt es, dass kein Ding für sich alleine existiert. Alles ist miteinander verbunden. Eine Rose zum Beispiel ist mit Dingen verbunden, die mit dem Objekt „Rose“ nichts zu tun haben, als da sind Wasser, Erde, der Gärtner, Dünger, die Luft. Dies alles wiederum ist verwoben mit anderem. All das vergeht auch nicht, sondern verändert lediglich seine Erscheinungsform. In allen spirituellen Disziplinen wird großer Wert auf Achtsamkeit gelegt. Es ist eine ständige Übung. Deswegen praktiziert der Suchende immer, auch wenn er nicht in Meditation sitzt oder Asanas macht.
Durch Bewusstheit werden die Zusammenhänge deutlich. Während des Essens wird deutlich, dass es ein Gut ist, welches durch viele Faktoren zustande kam. Luft, Wasser, die Mühe und Sorgfalt der Erzeuger usw.
Durch diese Betrachtungsweise kann ein Bewusstsein der Verbundenheit mit allem gefördert werden, welches dann auch bei zwischenmenschlichen Konflikten hilfreich sein kann. Wer kennt nicht den Segen der Naturbegegnung, wenn es in den Menschenbeziehungen kriselt?