Ob man es mit Eheberatung, mit Selbsterfahrungsgruppen oder mit Yogagruppen zu tun hat, ist egal. Einfach loslassen heißt die Lösung, die oft angeboten wird. Wenn es ein englischsprachiger Trainer ist, heißt es ganz sanft: „Just let it go, lass‘ es einfach los“.
Wenn du gerade eine Trennung hinter dir hast und leidest wie ein Tier: „Einfach loslassen!“
Loslassen ist das Zauberwort aller Entwicklung und Problemlösung, wohin auch immer und für was auch immer.
Kann mir irgendjemand von einem Fall von einiger Ernsthaftigkeit berichten, wo er oder sie es geschafft hat, „einfach los zu lassen“?
Schauen wir uns die Sache mal etwas genauer an.
Eigenschaften oder Verhaltensweisen, die wir als positiv empfinden, wollen wir in der Regel nicht loslassen. Nein, es sind die ungeliebten Attribute, die Ängste, die neurotischen Störungen, die Süchte und die im tiefen Keller unseres Seins verborgenen Gemeinheiten, die wir loslassen wollen. Warum? Weil wir darunter leiden. Weil wir uns ihrer schämen. Weil sie uns stören bei unserem selbst konstruierten lichten Bild von uns selbst. C.G. Jung bezeichnete diesen Bereich als Schatten. In Brechts Macky Messer heißt es: „….die im Schatten sieht man nicht.“ Richtig, aber da sind sie und zwar mit Macht. Beide Seiten, die lichten und geliebten und die abgelehnten, verdrängten bedingen sich. Wie kommt es eigentlich, dass Persönlichkeitsattribute in den Schatten geraten?
Ich möchte es an einem einfachen Beispiel, welches Carl Rogers einmal anführte, aufzeigen:
Zwei Brüder, sagen wir im Alter von zwei Jahren, spielen miteinander. Einer hat ein Auto, das der andere auch gerne zum Spielen hätte. Da der Autobesitzer nicht freiwillig nachgibt, kriegt er einfach einen Baustein auf den Kopf, was ihn zum sofortigen Aufgeben bringt. Natürlich gibt es ein großes Geheule und in diesem Moment kommt die Mutter zur Türe herein. Wie Mütter so sind, ergreift sie sofort Partei für den Weinenden und schimpft den Täter als Bösewicht. Soweit so gut oder vielmehr nicht gut. Es kann jetzt nämlich folgendes passieren:
Kinder in diesem Alter sind „asozial“. Sie müssen sich selbst erst ausprobieren und sich ihren Platz im Leben suchen. Dafür bedürfen sie der Eltern. Man nennt dies Sozialisation. Das eine Kind hat gesiegt. Wir alle wissen, dass siegen Spaß macht. Wenn man älter ist, dann trägt man dieses schöne Gefühl nicht mehr so offen zur Schau, sondern garniert es mit Mitleid mit dem Verlierer und anderen Mitmenschlichkeiten. Das ist auch gut so, denn auf diese Weise wird eine Gesellschaft sozial.
Bei unserem Kleinkind ist das aber noch ganz anders. Es realisiert, dass ein für ihn durch und durch positives Gefühl von der Mutter als negativ bewertet wird. Da es in diesem Alter aber essentiell auf die Liebe der Mutter angewiesen ist, muss es dieses für es positive Gefühl verdrängen, weil es Angst hat, die Liebe der Mutter zu verlieren und die ist für sein Überleben wichtig. Wenn es „therapeutisch“ denken könnte, dann würde es sagen: „Ich bin der Stärkere, das ist Klasse! Wenn meiner Mutter das nicht gefällt, dann ist das ihr Problem, nicht meines.“
Wenn sich solch ein Erleben viele Male wiederholt, dann wird ein an sich positives Gefühl negativ besetzt. Und es entsteht das, was wir als neurotische Störung bezeichnen. Das Gefühl muss „weg gepackt“ werden. So einem Menschen kann es passieren, dass er nicht zu seiner eigenen Stärke stehen kann.
Wir erleben dann, dass wir ihm so oft sagen können wie wir wollen: „Du schaffst das, lass‘ dich ja nicht unterbuttern“ und er kann es nicht annehmen.
Es gehört zwar nicht zum Thema, aber es taucht sicher die Frage auf, wie die Mutter sich richtig verhalten hätte?
1. Dem Gewinner zu verstehen geben, dass sie versteht, dass ihm sein neues Spielzeug Spaß macht und es schön ist, Sieger zu sein.
2. Ihn darauf hinweisen, dass sein Bruder jetzt weint und was man da nun tun könne, denn schließlich liebt er ja seinen Bruder auch.
Da die Mutter auch keine Therapeutin ist sondern nur Mutter, wird aber die Sache wohl in vielen Fällen ihren oben geschilderten Verlauf nehmen.
Von diesem Kaliber sind die Sachen, die wir in den „Schatten“ gepackt haben. Die kann man nicht einfach loslassen. Die muss man lernen anzunehmen. Alleine in dem Begriff Loslassen steckt ein Widerspruch. Wie soll man etwas loslassen, welches ein Teil seiner Selbst ist?
Ohne die Annahme dieser verdrängten Anteile sind wir nur halbe Persönlichkeiten, denn sie gehören ja nun mal zu uns. Einen guten Teil unserer Energie schöpfen wir auch aus den verdrängten Attributen. Verdrängte Wut verschwindet ja nicht einfach, sondern äußert sich zum Beispiel darin, dass wir auch mutig Stellung beziehen können.
Wenn wir jetzt von der psychologischen auf die Yogaebene gehen, kommen noch andere Aspekte dazu.
Das Leben, das heißt alles was ist, ist zusammengesetzt aus drei Momenten, dem Bewegenden, dem Trägen und dem Gleichgewicht zwischen beiden. Wir nennen das die drei Gunas. Diese drei Momente sind unablässig in Bewegung und wechseln sich ab. Auch in unserem Denken. Mal sind wir enthusiastisch, die Minute darauf betroffen, dann wieder mutlos usw. Solange wir leben, hört das nie auf. Es ist das Wesen des Lebens. Im Zuge dessen, kommen täglich Millionen von Eindrücken in unser Denken. Manche nehmen wir wahr, die meisten aber tauchen ab ins Unbewusste. Sie verschwinden aber nicht.
Wenn jetzt eine dieser Impressionen auf eine schon vorhandene ähnliche trifft, wird diese an die Oberfläche geholt.
Nehmen wir noch einmal das Beispiel mit den zwei Brüdern. Stellen wir uns vor, dass der Gescholtene auf eine dominante Chefin trifft, der irgendetwas an seiner Arbeit nicht gefällt und sie dies ziemlich harsch zum Ausdruck bringt. Dieses Erleben wird den Eindruck von damals aktivieren und das Selbstbewusstsein bezüglich der eigenen Stärke ist weg, und er weiß nicht warum.
Patanjali schreibt in Yogasutra 2: Yogas chitta vrtti nirodha. Das heißt: Yoga ist die Unterdrückung der Fluktuationen des Denkens. Das ist Yoga und nicht nur ein paar Übungen mit Räucherstäbchenduft.
Das heißt, das Denken wird zum absoluten Stillstand gebracht. Jeder, der schon mal zehn Minuten in einer meditativen Haltung saß, kann ermessen, was das bedeutet. Kaum sitzt man, fällt einem ein, dass man ja noch Bananen kaufen wollte und dass bei Aldi der Prospekt mit den neuen Sonderangeboten ausliegt usw.
Um dieses Ziel der absoluten Denkleere zu erreichen, steigt der Yogi aus dem Leben aus. Jeder Aspekt der Yogatechnik zeigt das. Leben heißt Bewegung. Der Yogi bewegt sich nicht. Nicht nur für zehn Minuten, sondern für Tage und Wochen sitzt er in seiner Meditation. Die Asanas werden in Bewegungslosigkeit über lange Zeit ausgeführt. Wer hat nicht schon Bilder von Sadhus gesehen, die über Jahre auf einem Bein standen, bis das Unbenutzte verkümmert war. Wenngleich das jetzt nicht unbedingt was mit Yoga zu tun hat. Aber das Prinzip, das dahinter steckt, ist das gleiche. Auch die Atmung, fast ein Synonym für Leben, wird unter Kontrolle gebracht und fast bis zum völligen Stillstand verlangsamt (Pranayama).
Warum das alles? Wenn das Denken völlig leer ist, dann erscheint die wahre Wirklichkeit, das reine Bewusstsein. Der Yogi identifiziert sich nicht mehr mit seinen Denkinhalten. Sie existieren nicht mehr. Dies ist Befreiung oder auch Erleuchtung im Yogasinn.
Es würde im Rahmen dieses kurzen Artikels zu weit führen, die ganzen Yogatechniken zu beschreiben, die dahin führen. Auf einen Nenner gebracht könnte man sagen, dass die zentrale Technik Konzentration ist, mit der sämtliche Denkinhalte gewissermaßen verbrannt werden.
Ich nehme nicht an, dass einer der Leser oder Leserinnen dieses Artikels vorhat, sich diesem Prozess zu unterziehen. Vielmehr wollen sie in Urlaub fahren, Geld verdienen, mit den Kindern spielen, Essen gehen usw. Aber da ist doch auch noch ein anderes Bedürfnis, denn sonst würde sich keiner irgendeinem Training unterziehen.
Ist es vielleicht der tiefe Wunsch nach Ganzheitlichkeit, sagen zu können, „das bin ich mit meinen Stärken und meinen Schwächen und so ist es gut?“
Im Yogainstitut in Bombay wird eine Konzentrationstechnik gelehrt, bei der man sich auf alle Geräusche konzentriert, die das Ohr wahrnimmt. Nach einer Weile kommt man auf immer feinere Ebenen. Man geht also den umkehrten Weg, indem man mit seiner Aufmerksamkeit bewusst nach außen geht anstatt sich nach innen zu wenden. Nach einiger Zeit verschwindet die innere Unruhe und man wird ruhig.
Vielleicht ist diese Übung ein Modell, um zur eigenen Ganzheit zu gelangen. Indem man alle Persönlichkeitsmerkmale, sogenannte positive als auch sogenannte negative annimmt, beendet man all die Kämpfe, die nichts als Kraft kosten. Krishnamurti hat das einmal sehr schön beschrieben: Wenn sich ein Teil des Denkens zum Zensor über den anderen Teil erhebt, dann entsteht ein zusätzliches Tohuwabohu.
Ich denke, dass dieses sich Annehmen eine Art Erleuchtungserlebnis für sogenannte Normalmenschen ist. Denn man stellt erstaunt fest: „Na und, das bin ich eben auch, und heute ist es so und morgen wieder anders. Wozu sich ärgern?“
Was man also letztlich loslässt, ist die ständige Bewertung seiner selbst.
Johnny Cash sang einmal „The road goes on“. Es ist ein großer Trugschluss, zu glauben, dass irgendwann einmal irgendetwas endet. Das führt zu einem ständigen Suchen. Manche Menschen „arbeiten ihr ganzes Leben an sich“, was immer das auch heißt. Irgendwas soll dann irgendwann erreicht sein. In Martin Walsers neuem Roman „Mein Jenseits“ geht ein Mann eine imaginäre Wand entlang, hinter der er das wahre Leben vermutet und sucht einen Durchgang, um dorthin zu gelangen. Letztendlich wird ihm bewusst, dass die Wand das Leben war.
Vor drei Jahrzehnten saß ich neben einigen anderen Yogaschülern vor meinem Lehrer Dr. Jayadeva bei der sogenannten Morninglecture. Unter uns war auch ein Universitätsprofessor, ein ernsthafter, intelligenter Mann. Irgendwann während des Gesprächs äußerte er ganz kindlich den Wunsch, dass ihm der Dr. die Hand auf den Scheitel legen möge, um die yogische Kraft zu übertragen. Was hat der Mann erwartet? Dass ihm plötzlich ein Blitz durchs Denken fährt, der ihn in ein Meer von gleißendem Licht führt? Ich denke nicht, dass das so läuft. Erkenntnis ist die Einsicht in und die Annahme der Dinge, wie sie sind. Und dann – Überraschung, Überraschung – könnte man plötzlich loslassen und stellt fest, dass es nichts mehr zum Loslassen gibt.
Gerhard Pflug
Februar 2010