Viele Wege…

Gestern war ich bei meiner Friseuse zum Haare schneiden. Wir kennen uns seit fast dreißig Jahren und unsere Unterhaltungen sind immer recht interessant. Sie fragte mich diesmal, was ich eigentlich von Karma halte. Ich antwortete, dass die Karmalehre, wie alle Religionen auch, eine politisch – gesellschaftliche Dimension habe. Als die Arier ca.1500 v. Chr. in Nordindien einwanderten, waren sie daran interessiert, ihre Herrschaft zu festigen und zu erhalten. Es gab zu Zeiten des Rigveda zwei Gruppierungen, die nach hellerer und dunklerer Hautfarbe eingeteilt waren. Daraus entwickelten sich aus der helleren Gruppe die Brahmanen (Priester), die Kshatriyas (Krieger), die Vaishyas (Händler) und die Shudras (Dienende).

Man wollte keine Vermischung mit den „Dunklen“.

Natürlich barg diese Einteilung das Risiko von Aufständen, denn wer würde wohl freiwillig in einem niederen Stand bleiben? Also wurde das Ganze religiös untermauert. Wer sein Dharma, übersetzen wir es hier mal mit Pflicht, in der Kaste, in die er hineingeboren wurde, ohne Widerspruch erfüllte, hatte die Chance, im nächsten Leben in einer höheren Kaste zu existieren. Dies wird auch im heiligen Buch der Hindus, der Bhagavad Gita, untermauert. Mit diesem, inzwischen fest betonierten Glauben werden die armen indischen Massen bis heute ruhig gestellt.

Wir sehen hier, dass Kasten, Karma und Wiedergeburt zusammen gehören. Das Karma, welches man durch eigene Handlung erzeugt, bestimmt die Kaste: „Du brauchst dich nicht beklagen, du bist für dein Schicksal ausschließlich selbst verantwortlich. Wenn du deine Pflicht (Dharma) aber in diesem Leben ohne Murren erfüllst, dann…“ Man kann nur sagen, dass das genial ist.

Natürlich haben wir auch in unserer christlichen Religion Beispiele dafür, dass man mit religiösen Aussagen gesellschaftsorientierte Zwecke verfolgen kann. Wir kennen alle die Geschichte von Kain und Abel. Gott nimmt das Tieropfer des Hirten Abel an und das des Gemüsebauern Kain findet keine Gnade. Nun muss man wissen, dass die Israeliten ein nomadisches Hirtenvolk, die Ackerbauern aber schon sesshaft waren, also bereits die nächste Stufe der Zivilisation erklommen hatten. Um seinem eigenen nomadischen Volk das erforderliche Selbstbewusstsein zu geben, das es instand setzten sollte, das gelobte Land Kanaan zu erobern, drehte man es so, dass Gott den Viehzüchter dem Ackerbauern vorzieht. Auch genial!

Es ist immer wieder verwunderlich, dass der Mensch, der sich als das einzige intelligente Wesen in diesem Universum bezeichnet, steif und fest behauptet, dass seine Religion die einzig wahre sei.

Wir sollten nie vergessen, dass Religionen Wege sind, die zurückführen sollen zum Vater (christlich) oder zum Brahman (dem unfassbar Göttlichen). Die Buddhisten glauben, dass jeder Mensch das Buddhawesen schon in sich trägt und es nur wahrnehmen muss. Religio bedeutet Rückverbundenheit. Wer die Regeln und Riten befolgt, wird zu Gott zurück finden. Riten, Regeln und Zeremonien bieten Halt und Sicherheit für den unruhigen Geist. Andererseits können sie auch zum Hauptzweck und damit inhaltsleer werden. Jesus selbst hat gegen die Pharisäer gewettert, die sich erhaben dünkten, wenn sie nur die Riten befolgten. Im Hinduismus wetterte der Erneuerer Shankaracharia gegen den wuchernden Brahmanismus.

Es ist müßig, hier alle Wege, sprich Religionen und Kulte aufzuzählen. Sie haben alle den Zweck, zur Gotteserfahrung zu führen. Interessant ist in dem Zusammenhang auch, dass es verschiedene Ebenen des Kultes gibt. Für die große Masse der Menschen dient das Schauspiel der Zeremonien dazu, sie wenigstens kurzfristig von ihren alltäglichen Geschäften wegzuführen, während dies für den Eingeweihten völlig bedeutungslos ist.

Dies findet nicht immer die Billigung der Dogmatiker. Die Mystiker lehnen ein bloßes Nachfolgen ab und lehren den Zweifel als Glaubenspraxis. Erst durch die eigene Erfahrung soll der Mensch zu Gott kommen. Das drückt sich auch in der Lehre des bekanntesten deutschen Mystikers Meister Eckehart aus. Er wurde später wegen Häresie angeklagt. Auch die Sufis, der mystische Zweig des Islam, ist bei Islamisten verfemt.

Auch Yoga, das auf der alten indischen Samkhya Philosophie aufbaut, ist ein nontheistisches System und hat mit irgendeiner Religion nichts zu tun.

Wir sollten nie darüber im Zweifel sein, dass alle Lehren nur Hilfsmittel sind, um das Brahman, das nicht definierbare Göttliche zu erfahren. Am deutlichsten zeigt sich das in der Technik des Zazens, in der der Aspirant mit offenen Augen vor einer weißen Wand sitzt, um sich im Gewahrsein dessen, was ist, zu üben.

Vielerlei Formen dienen einem Inhalt. Insofern konnte ich beim Haare schneiden nicht sagen, ob die Karmatheorie richtig oder falsch ist. Mit derselben Berechtigung könnte man das Abendmahl oder irgendeinen anderen Ritus beurteilen. Richtig oder falsch sind in diesem Feld Kategorien, die nicht greifen.

Der Eine oder Andere könnte sich jetzt recht verunsichert fühlen, weil die Frage nach dem Glauben in diesem Zusammenhang auftaucht, denn es wurde ihm vermittelt, dass der Glaube an Jesus ins Himmelreich führt. Wer kennt nicht die Szene mit dem Schächer am Kreuz, dem der Himmel versprochen wird.

Dies ist kein Widerspruch zu dem, was ich vorher geschrieben habe. Das Brahman, das ungestaltet Göttliche wird wohl in der Lage sein, sich in der einen oder anderen Form zu emanieren.

 

 

 

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