Wer bin ich?

Img 20240727 140646Als ich 1978 im Yogainstitut in Mumbai war, lebte Shri Yogendra noch, der „Founder“, wie er von uns allen genannt wurde. Er gründete das Institut 1918, als Indien noch britisch war. Es war damals nicht leicht, er musste sich zum Beispiel um Zement von den Briten bemühen. Das Land, auf dem die Anlage errichtet wurde, war eine Spende von Devotees.

Er war eine beeindruckende Persönlichkeit mit starkem Willen, der keinen Widerspruch duldete. Er war Yogi und Macher, musste er auch sein, um diese Institution zum Leben zu erwecken. Er war nicht sanft. Als Raja- Yogi und fest in der Samkhya- Philosophie verwurzelt, glaubte er nicht an Gott und hielt alle, die in die Tempel rannten, um dort Räucherstäbchen anzuzünden, für Narren. Als eines Tages in einem Nachbarhaus eine religiöse Sekte einzog und schon morgens um fünf Uhr Puja hielt, schimpfte er wie ein Rohrspatz und nach fünf Tagen Lärm waren die „Narren“ raus.

Von den indischen Schülern und Besuchern wurde er sehr verehrt und auch ich hatte großen Respekt vor ihm – aber beeindruckt war ich nicht. Warum? Weil ich zu viel von mir selbst in ihm sah.

Mein Guru war sein Sohn, Dr. Jayadeva Yogendra, das Ebenbild eines Karma-Yogis, der mit unerschütterlichem Gleichmut alles akzeptierte, dem keine Tätigkeit zu gering war und der mit Geduld versuchte, uns Studenten aus unserer Ignoranz zu führen.

So wollte ich werden!

Was aufzubauen, Bücher zu schreiben, das kann ich auch, dachte ich, aber das Dasein in Gleichmut und Akzeptanz zu leben und sich nie im Spiel der Gunas zu verlieren, sondern den Purusa hinter all dem Weltentrubel zu sehen, das war es, was mich faszinierte.

In dieser Haltung sah ich auch eine große Ähnlichkeit mit meiner „Lieblingspsychotherapieschule“, der klientenzentrierten Psychotherapie nach Carl Rogers, mit der ich schon einige Jahre früher in Berührung gekommen war und die ich späterhin im Verein mit Yoga auch jahrzehntelang praktizierte.

Aber – ich bin von Haus aus Sozialpädagoge. Das habe ich studiert, weil ich das Unrecht und die Ungleichheit auf der Welt bekämpfen wollte. Ich sah das sehr politisch als 68er.

Auch das ist noch da, und mich packt selbst heute, nach so vielen Jahrzehnten, ein mörderischer Zorn, wenn ich sehe, was in diesem Land und auf diesem Kontinent auf politischer Ebene alles schiefläuft.

Eigentlich, denke ich oft, eigentlich müsste ich kämpfen.

Diesen Zwiespalt kennen viele von uns.

Hier muss man sich entscheiden, was man als seine Lebensarbeit ansieht. Founder erzählte uns einmal eine Geschichte: Ein Mensch war auf dem Weg zum Bahnhof. Unterwegs traf er Freunde, die ihn am Weitergehen mit ihren Sorgen und Geschichten aufhielten. Als höflicher Mensch wollte er sie nicht brüskieren. Als er schließlich am Bahnhof ankam, war der Zug abgefahren.

„Der Zug ist abgefahren“, ist nicht umsonst eine Redensart, die etwas endgültig Versäumtes beschreibt.

Richard David Precht schrieb 2007 ein Buch mit dem Titel „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“

Wir sind keine homogenen Persönlichkeiten, sondern aus vielen Fragmenten zusammengesetzt, die teilweise sehr divergieren.

Da ist der Yogi neben dem Straßenkämpfer. Die sanfte Frau neben der femme fatale. Der Erdulder neben dem Mörder.

Es gilt, wahrzunehmen, wofür es sich lohnt zu leben und das dann trotz manchen Irrungen und Wirrungen nicht aus dem Sinn zu verlieren.

Das Leben, liebe Leser, ist ein Jahrzehnteprojekt und kein Wochenendseminar!

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