Was ist wirklich?

Wir erleben täglich den erstaunlichen Vorgang, dass wir uns in äußere Vorgänge verstricken und den damit verbundenen Gefühlen nicht entkommen können. Am deutlichsten wird das, wenn wir uns im Negativen festbeißen. Dann plötzlich, vielleicht ausgelöst durch einen positiven Sinneseindruck wie dem Zwitschern eines Vogels, ist alles anders. Das, was uns vorher so fesselte, erscheint plötzlich als nicht existent.

Gewöhnlich messen wir diesem Vorgang keine Bedeutung zu. Wir denken einfach: „Gott sei Dank hat sich meine Laune gebessert.“ Auf einer tieferen Ebene allerdings erhebt sich die Frage, ob das, was wir als real ansehen, wirklich real ist oder nur Einbildung.
Wenn wir uns einen Stein ansehen, ist der in der nächsten Woche immer noch ein Stein. Real hat sich natürlich auch da was verändert, aber das soll uns jetzt nicht kümmern.
Was sich aber sicher immer verändert, ist der Blickwinkel oder das Gefühl, mit dem wir diesen augenscheinlich immer gleichen Stein betrachten. Somit ist es nicht das Objekt an sich, was unsere fühlbare Realität kreiert, sondern aus welcher inneren Einstellung heraus wir uns ihm nähern.

Allein, wenn wir diesen Gedanken immer wieder mal denken, führt das dazu, dass wir eventuell nicht so lange in einem negativen Gefühl festhängen. Darum geht es ja. Kein Mensch hat ja was dagegen, in einer positiven Stimmung zu verweilen.
Es könnte also sein, dass die Welt, so wie wir sie sehen, gar nicht so ist. Dass die Buddhisten recht haben, wenn sie sagen, alles sei nur Einbildung und nicht wirklich.
Drücken wir es einmal zeitgemäß aus. Wenn wir gut drauf sind, ist die Welt hell, die Probleme scheinen nicht unlösbar und alles ist easy. Ich brauche nicht lange auszuführen, dass das ganz anders ist, wenn wir schlecht drauf sind. Wir alle kennen das.
Folglich bräuchten wir nur immer gut „drauf“ zu sein und die Welt erstrahlt in hellem Sonnenschein. Aber jetzt mal wieder Spaß bei Seite. Dies ist das zentrale Problem des menschlichen Seins und Denker, Religionsstifter und Philosophen widmen sich ihm seit Jahrtausenden. Es gibt unzählige Techniken, Meditationen und Ratgeber, die uns helfen wollen, in positiven Gemütszuständen zu verweilen. Meist sind wir aber zu bequem, den Techniken und Ratschlägen mit der erforderlichen Konsequenz zu folgen.
Es gibt im Yoga den Begriff Svadhyaya. Das bedeutet, dass es wichtig ist, womit wir uns beschäftigen. Wir haben Einfluss darauf, was in unser Denken hineingelangt. Zuviel Negativität tut uns nicht gut. Deswegen sollten wir Bücher lesen, die unsere Persönlichkeit auf ein höheres Niveau liften.
Das hat nichts mit positivem Denken zu tun, sondern folgt einfach der Überlegung, dass das was man in eine Flasche hinein füllt, dann auch drinn ist.
Es gibt im Yoga die sogenannte Chakrenlehre. Chakren sind Nervenknoten, die sich entlang der Wirbelsäule reihen. Metaphysisch gesehen symbolisieren die Chakren, auf welcher Bewusstseinsebene ein Individuum existiert. Das Wurzel – oder Muladhara – Chakra zum Beispiel, angesiedelt im Bereich des Beckenbodens, ist der Sitz von vitalen Gefühle und Trieben. Hier geht es um Basisbedürfnisse wie Essen, Überleben, Sex – aber auch um Gier und Wut. Menschen, die in diesem Chakra festsitzen, interessieren sich schwerlich für die lichten Höhen des Geistes.

Mir kommt es in diesem Essay auf das vierte Chakra, das Herz – oder Anahata – Chakra an. Wie der Name sagt, ist es in Höhe des Herzens angesiedelt. In diesem Bereich lösen sich Gegensätze auf. Hier können wir mit unserem höheres Selbst in Berührung kommen. Es ist der Sitz der reinen Liebe für alles, was ist. Menschen, die auf dieser Ebene existieren, sehen die Probleme um sich herum, aber sie sind in der Lage, Gefühl und Verstand zu verschmelzen und gleichsam in der Liebe zu bleiben.
Wenn ich das auf die im Moment allgegenwärtige Flüchtlingsdebatte anwende, so bedeutet das zum Beispiel, dass man verstandesmäßig sehen kann, dass es Grenzen der Aufnahmekapazität gibt. Das beinhaltet auch entsprechendes Handeln, nicht aber das Abgleiten in Hass und Intoleranz. Vielmehr bleiben Denken, Fühlen und Handeln auf der Ebene des Mitfühlens und der Liebe.

Was also ist wirkliche Realität? Je nachdem, auf welcher Existenzebene man sich befindet, sieht die Welt anders aus und das ist für das jeweilige Individuum auch Tatsache.

Karl Marx sagte: „Das Sein schafft das Bewusstsein“. Hier sehen wir, dass es genau anders herum ist. Wobei er natürlich recht hat, indem er in diesem Satz zum Ausdruck bringt, dass ein Mensch, dessen Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden, auch keine Energie hat, sich mit geistigen Dingen zu beschäftigen.

Es lohnt sich, darüber immer wieder einmal nachzudenken.

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