Reise in den Mikrokosmos

Indien4-26Man schreibt das Jahr 1980. Nach drei Monaten im Yoga-Institute bin ich fünfhundert Kilometer nach Süden ins Hippie-Paradies Goa geflogen. Drei Monate Askese, klösterliche Einschränkung und anstrengende Studien liegen hinter mir und bevor ich zurück nach Deutschland fliege, will ich eine Woche Sonne, Meer und Palmen genießen. Vom Flugplatz fahre ich nach Panjim und von dort mit dem Taxi nach Calangute.

Damals gab es dort noch keine Hotels außer einem großen grünen Kasten, der sich stolz Government-Tourist-Resort nannte und das einzige Restaurant des Ortes beherbergte. Das Taxi hielt auf dem Dorfplatz mit den ganzen Chai-Houses und ich verspürte Durst auf einen Tee. Ich betrat eine der Hütten und fand mich in wabernden Haschischwolken wieder. Aus den Boxen wummerte „Keep on rocking me baby“ von der Steve Miller Band. Im Raum befand sich ein

buntes Völkchen in fantasievollen Klamotten, wie auch der ganze Ort von ihnen geprägt war.

Als ich nach einer Viertelstunde das Lokal verließ, war ich high, einfach nur vom Dasitzen.

Damals konnte man kilometerweit die Strände ablaufen, ohne eine Menschenseele zu treffen. Die Rave-Parties am Anjuna-Beach lagen noch im Nebel der Zukunft. Morgens und Abends half der ganze Ort, die schweren Fischerboote, an denen man keinen einzigen Nagel finden konnte, an Land zu ziehen. Wenn nach den grandiosen Sonnenuntergängen der Tag zu Ende gegangen war, und die Dunkelheit die Palmen verschluckte, war Ruhe, außer in ein paar Haschischhütten, in denen man fleißig „an der Bewusstseinserweiterung“ arbeitete.

Ich mietete für ein paar Rupien eine Hütte in den Kokospalmenhainen. Überall liefen die struppigen Schweine herum und sorgten für Hygiene, indem sie die Hinterlassenschaften aus den im Freien stehenden Plumpsklos schmatzend beseitigten.

In einer Nachbarhütte hatten sich ein paar Leutchen aus Frankfurt einquartiert. Sie standen spät auf und es herrschte ständige Betriebsamkeit. Man fuhr auf geliehenen Enfield-Motorrädern hin und her und war ständig geschäftig. Häufig wurde gestritten. Von Ruhe oder gar einem Genießen dieses Paradieses keine Spur.

„Eigentlich hättet ihr auch in Frankfurt bleiben können“, dachte ich mir öfters. Ich weiß nicht, wie viel diese Leute von der in Indien einzigartigen kulturellen Mischung aus Hinduelementen und Katholizismus mitbekamen. Sie erschienen mir fast ausschließlich mit sich selbst und ihren Streitereien beschäftigt.

Man kann bis ans Ende der Welt reisen, aber sich selbst hat man immer dabei. Die innere Unausgeglichenheit und die Konflikte bleiben nicht zuhause. Sie bestimmen auch in der Ferne das Bewusstsein. Wenn das Innere nicht bereit ist, kann das Außen noch so farbig sein, es wird keinen Eingang finden. Das, was man sich von der Reise ersehnt, bleibt ein Traum.

Im Umkehrschluss kann man auch zuhause viel erleben, wenn man innerlich ausgeglichen ist.

Gegenwärtig zwingt uns Corona zum Zuhause bleiben. Außer Klagen darüber ist nicht viel zu hören. Alle sehnen das Ende der Pandemie herbei, um wieder da zu beginnen, wo sie aufgehört haben. Besonders die Jugend leide darunter, denn alle Discos und sonstigen Treffpunkte befinden sich im Lockdown. In der NZZ äußert sich heute der Freizeitforscher Horst W. Oppaschowski, dass durch die fehlenden Reisemöglichkeiten die Gefahr von Depressionen und Aggressivitätsausbrüchen bestehe. Der Kontakt zu anderen Kulturen sei unterbrochen und das Verständnis füreinander sei gefährdet.

Seien wir ehrlich, die meisten von uns tappen mehr oder weniger blind durch die Welt, in die es sie aus welchen Gründen auch immer hinauszieht. Seit Gerhard Polt kennen wir den Schweinshaxe essenden Deutschen an italienischen Stränden.

Der Yogi sieht den Makrokosmos im Mikrokosmos. Jedes Ereignis hat seinen Sinn, so auch die Pandemie. Ich spreche hier nicht von den Kategorien Positiv oder Negativ. Die Situation ist, wie sie ist. Es ist an uns, den individuellen Sinn, der darin liegt, herauszufinden.

Wir Menschen sind selten freiwillig bereit zur Entschleunigung. Jetzt werden wir dazu gezwungen. Der Weise klagt nicht, sondern sucht die Chance, die in jeder, also auch in dieser Situation liegt. Gegenwärtig können wir uns nicht in der Weite verlieren. Wenn wir uns in der ganz alltäglichen Gegenwart öffnen, können wir die ganze Welt erfahren. Es ist ja nicht das Äußere, die Berge, das Meer usw., was am intensivsten in uns klingt. Es sind die Gefühle und Impressionen, die dadurch erweckt werden.

Die Schönheit der Welt, die uns die Brust weitet und das Gemüt erhellt, wird uns gegenwärtig auf dem Silbertablett in unserer sogenannten Alltäglichkeit serviert.

Greifen wir zu!

 

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