Bakterien und andere Heilige

Stellen wir uns ein Bakterium im Magen-Darmtrakt vor und interviewen wir es über seine Ansichten über die Welt. Was mögen da für Antworten herauskommen? Ein Bacteroides-Bakterium wird begeistert von seiner Arbeit des Aufspaltens von Kohlehydraten erzählen. Bakterien der Gattung Prevotella würden sich enthusiastisch über die vegetarischen Aspekte ihrer Tätigkeit auslassen. Dem Interviewer würde das ganze Gespräch nach kurzer Zeit recht eintönig vorkommen, weil einfach kein Austausch über kulinarische Highlights zustande käme, sondern nur über Glukoseketten rauf und runter.

Schließlich würden sich die Gesprächspartner höflich aber frustriert trennen. „Nie wieder mit dem!“

Jeder von uns wird wohl schon einmal interessiert das Gewimmel auf einer Ameisenstraße beobachtet haben. Wie die Tierchen emsig ihrer Arbeit nachgehen und Blättchen mit einem Vielfachen ihres Körpergewichts vor sich her bugsieren. Sie haben keine Ahnung von dem Beobachter. Sie leben in ihrer eigenen Welt.

Die Welt der Bakterien und der Ameisen ist real. Sie erscheint uns gering, sind wir doch der Meinung, dass wir den größeren Durchblick haben. Fakt aber ist es, dass auch unsere Sicht der Wirklichkeit nur eine unter anderen ist.

Ist jetzt die eine wichtiger als die andere? Dem Koch, der ein Avocadocarpaccio an Basilikummousse zubereitet hat, wird die technische Diskussion über die Kohlehydrate wohl etwas nüchtern erscheinen. Gleichwohl er von Berufs wegen über die Wichtigkeit der Bakterien Bescheid weiß. Aber – es ist halt nicht so der ultimative Kick, der da rüber kommt.

Festzuhalten ist, dass sowohl die Bakterien im Darm (gilt gemeinhin nicht als glamouröses Körperteil) als auch die Ameisen in ihrem Universum ihren Teil zum großen Ganzen beitragen. Sie können mit Fug und Recht Einspruch gegen unsere Arroganz erheben.

Der nächste Schritt in unseren Überlegungen ist die Frage, ob wir denn gegenüber einer anderen Realität nicht auch die Rolle von Ameisen spielen?

Wir wissen es nicht, genau so wenig wie die von uns gering Geschätzten. Schon allein das sollte uns mit einer gewissen Demut erfüllen.

Wir mussten ja schon von manchem Thron heruntersteigen. Wir mussten lernen, dass nicht die Erde, sondern die Sonne das Zentrums unseres Systems ist. Unser Bewusstsein ist nicht „Herr im Haus“, sondern das Unbewusste.

Die mystischen Traditionen wie Yoga, Zen oder der Sufismus wissen das. Ich habe neulich eine kluge Definition von Meditation gelesen: Sie ist der Versuch des Großhirns, das dahinter gelegene Reptilienhirn mit Kleinhirn und die Medulla Oblongata zur Ruhe zu bringen. Das heißt, das Tagbewusstsein muss die Disziplin aufbringen, sich hinzusetzen und die „grauen Eminenzen“ im Hintergrund und die eigenen ständigen Aktivitäten zur Ruhe zu bringen.

Dann, wenn alle Umtriebe von Groß-und Kleinhirn zur Ruhe gekommen sind, eröffnet sich dem Adepten die große Realität oder Gottesschau.

Wir können nicht durch Denken dahin gelangen.

Als ich einst in der winzigen Meditationshöhle des großen Ramana Maharshi auf dem Berg Arunachala in Südindien stand, fragte ich mich, was einen wohl dazu bewegen kann, Jahrzehnte lang dort zu bleiben und überhaupt nichts von dieser bunten, lebendigen Welt mitzubekommen? Natürlich wusste ich es intellektuell, aber es ist schwer nachzuvollziehen. Dieser Mensch lebte in der absoluten Schau des Seins. Wozu sollte er nach London fahren, um die Tower Bridge zu sehen?

Sat-Chit-Ananda heißt es im Vedanta: Das absolute Bewusstsein, die höchste Form der bedingungslosen Glückseligkeit. Das war seine Ebene der Existenz.

Wir, die im profanen Leben stehen, ahnen nur manchmal vom Vorhandensein dieser Art des Bewusstseins. Schnell sind wir dann wieder in unseren täglichen Verrichtungen versunken.

Was wir tun können ist, uns immer wieder daran zu erinnern, dass unsere Sicht nicht die wahre Sicht der Dinge ist.

Im 17. Jahrhundert lebte in Rom der lachende Heilige Philipp Neri. Er nahm die Menschen durch seinen Humor ein. Je bekannter er wurde, desto närrischer wurden seine Späße. Im nicht ernst nehmen des Täglichen sah er die Lösung, um nicht davon verschlungen zu werden.

„Seid gut…wenn ihr könnt“, sagte er. Als er bereits 1622 zusammen mit solchen Größen wie Ignatius von Loyola, Teresa von Avila, Franz Xaver und Isidor heiliggesprochen wurde, hieß es in den Straßen Roms: „Heute hat der Papst vier Spanier und einen Heiligen kanonisiert.“

Das Leben ist ein Film, der sich vor unseren Augen abspielt. Wir sind begeisterte Zuschauer und freuen uns und leiden mit den Protagonisten auf der Leinwand – wir sind gleichsam beteiligt.

Aber, ohne die Projektorlampe hinter dem Film spielt sich gar nichts ab. Ihr Licht ist immer gleichmäßig, während auf der Leinwand stetiger Wechsel zwischen Hell und Dunkel und zwischen Ruhe und Bewegung herrscht.

Erinnern wir uns immer wieder daran.

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