Immer ich!

Wir beobachten Menschen, die viel leiden müssen, die ein ständiges ”Warum ich?” mit sich herum tragen. Anderen scheint alles zu gelingen. Sie sind sozusagen auf der sonnigen Seite des Lebens. Wenn ich das Karmagesetz auf dieses Problem anwende, dann erscheint mir die Aussage aus Sutra 14 im zweiten Kapitel der Yogasutren logisch, dass gute Handlungen angenehmere Erfahrungen produzieren als schlechte Handlungen. Diese Aussage deckt sich mit meiner täglichen Erfahrung. Wenn ich jemandem etwas Gutes tue, fühle ich mich besser und ich bekomme von ihm eine positivere Resonanz, als wenn ich ihn ärgere. Ich denke, dass wir Menschen ein sehr feines Gefühl für gut oder schlecht haben. Wir brauchen nur darauf hören.

Es liegt also an uns, wie es uns geht. In diesem Zusammenhang ist es wirklich wichtig, zu verstehen, dass es in diesem System den Begriff ”Schuld” nicht gibt. Es ist pervertiertes Denken, auf Menschen, die leiden herabzusehen und zu denken: „selbst schuld”. Das ist Pharisäertum und zeugt von wenig Verständnis, zumal diese Haltung, neben anderen, genau dem entspricht, was mit „schlechter Handlung” gemeint ist. Es gibt in Indien den Ausspruch: „Sei dem Bettler dankbar, dass er dir die Chance gibt, das Gute in dir zu entdecken”. Du merkst selbst immer wieder, dass die negativen Seiten in dir ein Ballast sind, den du mit dir herumschleppst.

Ich meine damit solche Sachen wie Neid, Missgunst, Schadenfreude usw. Begreife es als Training für deinen Weg zur Freiheit, wenn dich Menschen fordern, denen es nicht so gut geht wie dir. Denke daran, dass wir alle auf dem Weg sind. Sieh auch zu, dass du dabei nicht in die Haltung verfällst: „Wenn ich dem Junkie jetzt eine Mark gebe, dann geht es mir im nächsten Leben besser”. Das wäre berechnend. Es geht um das ”Gute an sich”. Dies, trotz aller Rückschläge, immer wieder zu erkennen, erfordert ein ständiges Reflektieren der eigenen Person und der Interaktionen mit der Außenwelt unter Einbezug philosophischer Überlegungen .

Lass’ dich mal darauf ein, „just for fun“ und spüre die innere Freiheit, die du dadurch erlebst. Freiheit hat nichts damit zu tun, nach Las Vegas zu fahren und die Sonne zu putzen, wie es Udo Lindenberg in einem seiner Songs ausdrückt, denn das, was dich eigentlich unfrei macht, nämlich das was in dir ist, hast du ja auch dort dabei. Ich war vor Jahren eine Woche lang in Goa, damals noch ein stilles Paradies. Ich hatte mir für einige Rupien ein kleines Haus in einem wunderschönen Palmenhain gemietet. Meine Nachbarn waren einige junge Aussteiger aus Frankfurt. Auch sie waren ins ”Paradies” gekommen – und hatten ihren ganzen Zank und ihre Unzufriedenheit mit sich und den Umständen mitgebracht. Sie wirkten nicht glücklich.

Freiheit ist die Einsicht in die Natur der Dinge und das Annehmen der eigenen Verantwortung. Jemandem anderen die Verantwortung für sich anzulasten bedeutet immer Unfreiheit. Frei zu sein, bedeutet auch die Fähigkeit, etwas abschließen zu können. Ich habe in vielen Therapiesitzungen erlebt, wie Menschen ihre Eltern für die Schwierigkeiten in ihrem Leben verantwortlich machten. Jeder von uns weiß, dass Eltern wahrlich nicht immer optimal handeln, um ihre Kinder zu selbstbewussten und selbstbestimmten Menschen heran zu erziehen.

Zwei Dinge sind aber zu beachten:

Auch sie hatten ihre Stärken und Schwächen. Sie waren keine Supermenschen und du hast das von ihnen bekommen, was ihnen möglich war zu geben. Dass dein Vater vielleicht trank und dich verprügelt hat, ist nichts, wofür du ihm dankbar sein musst. Ich nehme aber an, dass er mit seinem Leben auch nicht zufrieden war und oft aus Schwäche nicht anders konnte als zur Flasche zu greifen. Nichts ist vollkommen schwarz. Also wird auch er dir etwas Positives mitgegeben haben. Vielleicht die Fähigkeit, immer irgendwie wieder auf die Beine zu kommen. Solange du Groll auf deine Eltern hegst, trägst du sie mit dir herum, auch wenn du dich räumlich fern von ihnen hältst. Sie haben nach wie vor Macht über dich und du spielst „ihr Spiel”. Es ist eine der größten Leistungen in jeder Psychotherapie, seine Eltern, so wie sie sind anzunehmen und ihnen zu verzeihen. Erst dann bist du frei. Natürlich musst du vorher durch den ganzen Wust an Gefühlen hindurch.

Die andere Sache, die du beachten musst ist die, dass du deinen Eltern als Kind ausgeliefert warst. Das sind Kinder immer. Die Erwachsenen sind einfach zu groß und zu mächtig. Zudem darf das Kind nicht „böse” sein, weil es von der wahnsinnigen Angst beherrscht wird, die Liebe oder die Nähe von Vater und Mutter zu verlieren. Auch da hast du bestimmt Grund zu Ärger und Wut, wenn du zurückdenkst. Nur – jetzt bist du kein Kind mehr! Und es ist „kindisch”, die Eltern immer noch für eigenes Verhalten verantwortlich zu machen. Das hält dich in Abhängigkeit und Schwäche. Du musst, allein oder mit Hilfe anderer, soweit kommen zu sagen: „Okay, das und das habe ich als Kind erlebt und ich habe damit immer noch meine Schwierigkeiten, aber jetzt bin ich erwachsen und ich werde jetzt darangehen, die Sache für mich in Ordnung zu bringen”.

Du kannst dieses Prinzip Selbstverantwortung sehr oft üben. Es ist ein zentraler Punkt im Yogatraining. Achte zum Beispiel mal drauf, wie viele Schuldzuweisungen du am Tag verteilst.

Hier einige Beispiele: Dir geht es nicht gut, weil das Wetter zu heiß oder zu trüb ist. Deine Frau hat dich nicht genügend beachtet, deswegen hast du schlechte Laune und Selbstzweifel. Die Verkäuferin im Modegeschäft hat dich warten lassen usw.usw.

Es gibt immer tausend Gründe, warum dies oder das nicht so läuft, wie du es dir vorgestellt hast. Es ist das (clevere) Spiel der Gunas, die sich entsprechend deinem Karma gruppieren und die die einzige Aufgabe haben, dich frei zu machen.

Stelle dir folgendes Bild vor: Die Gunas haben sich zu einem trüben Wetter formiert, weil sie durch dein Karma die Information haben, dass dich das in schlechte Laune versetzt und du das unbedingt lösen musst, bevor du weiterkommst. Du aber spulst dein übliches Verhaltensschema ab und wirst missmutig. Um dich herum aber ertönt, unhörbar für dich, ein kosmisches Gelächter, während sich die Gunas schon wieder beginnen umzugruppieren, um dir die nächste Chance zu bieten.

„Das Yogalehrbuch“ G.Pflug

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