Die Blinden und die Sehenden

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Wenn man an einen spirituellen Text wie zum Beispiel die Bibel mit exoterischer Sichtweise herangeht, wird man sehr schnell an Grenzen stoßen. Evangelikale Gruppen in den USA tun das. Nur zur Erinnerung die Episode mit der ersten Familie: Die Söhne Adams und Evas

gingen in ein anderes Land und nahmen sich dort Frauen. Woher sollten sie kommen, wenn es doch nur vier Menschen gab?

Ich war in der Vergangenheit ab und zu in sogenannten Bibelstunden. Dort wollte man dem genauen Wortlaut der Bibel nachspüren. Ich fand das nach einiger Zeit immer recht unbefriedigend und der leitende Pfarrer konnte mir auch nicht helfen.

Wie soll man zum Beispiel mit einer Aussage wie: „Er wird kommen, zu richten die Lebendigen und die Toten“ umgehen, wenn es gleichzeitig heißt: „Gott liebt alle seine Kinder.“ Wie passt Liebe und Strafe zueinander? Gar, wenn man dann auch noch die ewige Verdammnis miteinbezieht? Welcher liebende Vater würde seine Kinder, wenn sie gefehlt haben, auf ewig verstoßen?

Mit esoterischer Sicht herangehen heißt, die Botschaft erkennen, die einem Text innewohnt. In allen Schriften findet man Stellen, die man in den Kontext des jeweiligen Zeitalters und der damaligen Sicht auf Individuum und Gesellschaft einordnen muss. Wenn im Koran steht: „Tötet alle Ungläubigen, wo ihr sie findet!“, dann heißt das nicht, dass der Koran ein gewalttätiges Buch ist, denn wir lesen auch: „Und schmähet nicht die, welche sie statt Allah anrufen, sonst würden sie aus Groll Allah schmähen ohne Wissen. Also ließen Wir jedem Volke sein Tun als wohlgefällig erscheinen. Dann aber ist zu ihrem Herrn ihre Heimkehr; und Er wird ihnen verkünden, was sie getan.“

Genauso gilt das auch für die Bibel, wenn wir dort lesen: „Wenn ein Mann einen störrischen und widerspenstigen Sohn hat, der nicht auf die Stimme seines Vaters und seiner Mutter hört, und wenn sie ihn züchtigen und er trotzdem nicht auf sie hört, dann sollen Vater und Mutter ihn packen, vor die Ältesten der Stadt und die Torversammlung des Ortes führen und zu den Ältesten der Stadt sagen: Unser Sohn ist störrisch und widerspenstig, er hört nicht auf unsere Stimme, er ist ein Verschwender und Trinker. Dann sollen alle Männer der Stadt ihn steinigen und er soll sterben.“

Was also soll man glauben? Glauben heißt hinsehen, hinfühlen, hinhören, hinriechen. Dazu gehört Stille. Stille, die man auf einem Spaziergang vor Sonnenaufgang erleben kann, wenn die Sterne noch sichtbar sind und sich das erste Licht im Osten ankündigt. Man hört sie im Gesang eines Stars auf dem Dachfirst im Abendrot. Man riecht sie in einer Rose im Garten. Es sind Botschaften des Friedens, die die Wahrnehmung öffnen, die aus Blinden Sehende machen kann.

Wenn man sich in diese Stille hineinfühlt, dann ist es möglich, die Ganzheit der Schöpfung zu spüren. Der Glaube wird greifbar. Die Grenzen zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“ werden fließend. So wird aus dem „du sollst“ ein freiwilliges Mitfließen oder, um es biblisch auszudrücken, ein Nachfolgen.

Das verstehe ich unter Glauben.

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