Der Weg der Ichlosigkeit

P1020282Wir leben in einer Zeit der Polarisierung der Meinungen. Begriffe wie Cancel Culture geistern durch die Medienlandschaft.

Vor allem während der unseligen Coronazeit trafen die Meinungen hart aufeinander. Impfgegner wurden als Volksfeinde diskriminiert. Es hieß, sie gefährdeten die Gesundheit aller, indem sie potentielle Virenschleudern seien.

Auf der politischen Ebene ist es noch gefährlicher, eine eigene Meinung zu äußern. Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal eine Zeit durchlebt zu haben, in der langjährige Freundschaften zerbrachen, bloß weil einer anderer politischen Ansicht war.

Während eines kürzlichen Stadtbummels sah ich mir die Parfümwerbung einmal genauer an. Im Gegensatz zu früher, wo die Werbefiguren ein freundliches Gesicht machten, um ihr Anliegen rüber zu bringen, schauen heutzutage alle grantig aus der Wäsche. Alle scheinen mit dem Rest der Welt im Clinch zu liegen.

Die Bezeichnung dafür ist „cool“.

Angefangen damit haben die Herren Dean und Brando. Damals galt das als rebellisch. Dabei ist bei dem Ganzen überhaupt nichts Rebellisches. Im Gegenteil! Sie schwimmen voll im Tümpel des Mainstreams und greifen sich nur ein größeres Stück vom Kuchen, indem sie anderen ihre Jeans und Duftwässerchen oder sonstigem Kram, für den sie stehen, verkaufen wollen.

Rebellisch ist der, der dem Ganzen eine Absage erteilt, dem schnurzegal ist, welches Etikett auf seiner Hose klebt und ob seine Schuhe drei oder vier Streifen haben.

Psychologisch gesehen ziehen sich so „kleine“ Leutchen eine Persönlichkeit über, die sie nicht haben. Hauptsache coool.

Was wir hier sehen, ist eine Erhöhung des eigenen Egos. Von der Warte des eigenen aufgeblähten Ichs wird die Welt betrachtet.

Sehen wir uns an, wie Konflikte entstehen:

Sie kochen immer am stärksten hoch, je eiserner der eigene Standpunkt vertreten wird.

Nun, was ist das Wesen solcher Standpunkte? Sie sind Momentaufnahmen in einem ständig sich wandelnden Strom von Wahrnehmungen, aus denen das Denken dann eine Realität zimmert. Das Ganze wird noch mit Emotionen aus der eigenen Biografie vermischt und damit wird „in den Kampf“ gezogen.

Jeder von uns hat schon x-mal erlebt, wie diese Positionen bereits am nächsten Tag völlig bedeutungslos geworden sind.

Mit Realität hat das alles nichts zu tun.

Marc Aurel, der Stoiker auf dem Kaiserthron, meinte, je mehr das eigene Ich zurückgenommen wird, desto klarer tritt die wahre Realität zutage.

Handeln soll kein Agieren aus dem Ego heraus sein, sondern sich aus der Notwendigkeit des Augenblicks ergeben.

Bei einem anderen berühmten Stoiker, Epiktet, wird klar, was damit gemeint ist.

Er beschreibt, wie einer in ein öffentliches Bad geht, so wie es in der Antike, zumal in Rom, üblich war. Wenn dieser Besucher dort Ruhe und Stille erwartet, kommt das aus einer falschen Realitätswahrnehmung heraus und er wird sich ärgern. Wäre er klug, würde er von vornherein Lärm erwarten und sich danach verhalten. Er hätte eine schöne Zeit im Bad.

Das Credo des indischen Weisheitslehrers Jiddu Krishnamurti lautet: „Nehme wahr!“ und weiter: „Das Glück kommt, wenn man es nicht sucht.“

Es ist ein grundsätzliches Missverständnis, anzunehmen, dass die Zurücknahme des Egos Trägheit und Passivität sei.

Das Gegenteil ist der Fall. Aus der gelassenen, distanzierten Wahrnehmung der Geschehnisse entsteht die Einsicht in Notwendigkeiten bestimmten Handelns.

Dies hat eine weit höhere Qualität als Handeln aus einem aufgeblähten Ego heraus.

 

 

 

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