Wir Blinden

P1040624So um 350 vor Christus lebte in China ein Weiser namens Zhuangzi. Ein berühmtes, in Teilen von ihm verfasstes Werk, heißt genauso.

In der Eröffnungsgeschichte geht es um die beiden Vögel Rokh und Wachtel. Der Vogel Rokh fliegt höher, ist aber trotzdem an die dingliche Welt, also die Welt der Sinneswahrnehmung, gebunden. Die Wachtel, als Synonym für die Wahrnehmung des durchschnittlichen Menschen, fliegt wesentlich tiefer. Beider Horizont ist bedingt. Beider Wissen stützt sich auf Sinneswahrnehmung, wobei sich der Vogel Rokh durch Anstrengung und Disziplin weiter in die Lüfte erhebt.

Wie alle Weisen favorisiert Meister Zhuang Erkenntnis, die nicht mehr der Relativität des Dinglichen unterworfen ist.

Wir wir wissen, ist sie stetem Wandel unterworfen, was in dem folgenden Beispiel sehr schön dargestellt ist:

„Die Ränder des Schattens fragten den Schatten und sprachen: »Bald bist du gebückt, bald bist du aufrecht; bald bist du zerzaust, bald bist du gekämmt; bald sitzest du, bald stehst du auf; bald läufst du, bald bleibst du stehen. Wie geht das zu?« Der Schatten sprach: »Alterchen, Alterchen, wie fragt Ihr oberflächlich! Ich bin, aber weiß nicht, warum ich bin. Ich bin wie die leere Schale der Zikade, wie die abgestreifte Haut der Schlange. Ich sehe aus wie etwas, aber ich bin es nicht. Im Feuerschein und bei Tag bin ich kräftig. An sonnenlosen Orten und bei Nacht verblasse ich. Von dem andern da (dem Körper) bin ich abhängig, ebenso wie der wieder von einem andern abhängt. Kommt er, so komme ich mit ihm. Geht er, so gehe ich mit ihm. Ist er stark und kraftvoll, so bin ich mit ihm stark und kraftvoll. Bin ich stark und kraftvoll, was brauche ich dann noch zu fragen?“

Im Kapitel 1 Vers 6 in Patanjalis Yogasutren sind fünf Arten von Geisteszuständen erwähnt. Es sind dies: Korrektes Wissen, Irrtum, Einbildung, Schlaf und Erinnerung.

Der Mensch hält sich viel zugute auf seine Rationalität, die ihn in die Lage versetzt, die Wahrheit zu erkennen.

Als „Beweis“ sei hier das berühmte „Hammerbeispiel“ von Paul Watzlawik erwähnt: Ein Mensch möchte einen Nagel einschlagen, um ein Bild aufzuhängen. Zu diesem Behufe benötigt er einen Hammer, den er nicht besitzt. Er beschließt, seinen Nachbarn zu fragen. Während er diesen aufsucht, fallen ihm einige Verhaltensmomente aus neuerer Zeit ein, die er beim Nachbarn glaubt, wahrgenommen zu haben. Einmal ist er an ihm vorbeigelaufen, ohne zu grüßen. Ein andermal hat er seltsam geschaut, usw. Unser Mensch wird durch diese Erinnerungen recht ärgerlich und schreit den Nachbarn an, nachdem er endlich an dessen Haustür angelangt war: „Und damit Sie’s wissen, Ihren Hammer brauche ich auch nicht!“

Glauben wir ja nicht, dass uns das nie passiert. Es passiert oft! Unser Bild von den Anderen und unserer Umwelt ändert sich im Minutentakt. Im Yoga kennen wir den Begriff „Samskaras“. Das sind unzählige Eindrücke, die in der „Chitta“, dem Denken gespeichert sind. Diese Samskaras sind latent. Das heißt, sie sind, so alt sie auch sind, jederzeit abrufbar, sobald unsere Sinne einen entsprechenden Anreiz liefern. Wir vergleichen ständig. Wir nehmen zum Beispiel einen Menschen wahr und sofort kommen Gefühle und Gedanken an vergangene Kontakte und Situationen, die wir erlebt haben. In diesem Licht erscheint uns der Mensch, den wir vor uns haben. Unsere Stimmung und damit Wahrnehmung ändert sich von einem auf den anderen Moment. Unsere Urteile und Einschätzungen sind eingefärbt und basieren nicht auf „korrektem Wissen“.

Wir kennen im Yoga den Begriff „Avidya“. Das bedeutet, etwas nicht Dauerhaftes als dauerhaft und vice versa zu betrachten.

Meister Zhuang bringt das in dem Beispiel vom Schatten sehr schön zum Ausdruck. Er ist da, aber nie gleich. Er ist immer abhängig von Anderem.

(wird fortgesetzt)

 

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