Kürzlich las ich ein Buch, in dem ein Mann, der acht Jahre keinen Alkohol getrunken hatte, nach einem Schicksalsschlag abstürzte, und zwar nicht auf der Ebene von ein paar Bieren, sondern von ein paar Flaschen Schnaps. Natürlich war ihm vollkommen bewusst, dass er das Falsche tat. Trotz aller Gegenwehr nahmen die Dinge ihren Lauf. Nach der über Jahre vermissten Erquickung folgte das unvermeidliche Schuldgefühl, versagt zu haben und der Katzenjammer.
Wir, in unserer christlich – abendländischen Kultur, sind der Ansicht, einen freien Willen zu haben. Unsere Religion lehrt uns, dass Gott uns immer die Entscheidung einräumt, ob wir den dunklen oder den hellen Pfad gehen wollen.
Andererseits lesen wir bei Lukas in Kapitel 12,7 : „Aber auch die Haare auf eurem Haupt sind alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser denn viele Sperlinge.“ Dieser Satz impliziert, dass ohne Gottes Wille auch Haarwuchsmittel nichts nützen – wenn er es denn nicht will.
Ein sehr guter Freund versucht seit einem halben Jahrhundert vom Rauchen loszukommen – ohne Erfolg. Ein willenloser Schwächling? Eher nicht. Wenn ich mir seinen Lebenslauf anschaue, so sehe ich, dass er in etlichen Daseinsfeldern respektable Leistungen hervorbringt, die ohne erhebliche Willensleistungen nicht möglich wären.
Wir amüsieren uns gerne über den folgenden Witz: „Wie bringst du Gott zum Lachen? Indem du ihm von deinen Plänen erzählst.“
Wir müssen uns darüber klar sein, dass Religionen und Philosophien Erklärungsversuche der Dinge sind, wie sie sind.
Im Christentum und im Islam wird die Allmächtigkeit Gottes postuliert. Im Koran heißt es: „Kein Unglück trifft ein, weder im Land noch bei euch selbst, ohne dass es in einer Schrift wäre, noch ehe wir es erschaffen. Dies ist Allah ein Leichtes.“
Im 33. Psalm heißt es: „ Wenn er spricht, so geschieht es; wenn er gebietet, steht‘s da.“ Oder: „Wenn er will, dann steht die Sonne still.“
Im Osten haben wir den Begriff Karma, welches besagt, dass wir für die Art und Weise unseres Daseins, wie z.B. den Ort, an dem wir leben oder in welcher Position wir uns befinden, selbst verantwortlich sind. Unser früheres Verhalten, und hier kommt auch die Reinkarnation ins Spiel, denn es geht ebenso um Taten aus früheren Leben, bestimmt unser jetziges.
Das ist eine klare Aussage. Die „Wüstenreligionen“ Christentum und Islam tun sich da schwerer, denn wenn Gott allmächtig ist, dann ist er auch für alles Unglück dieser Welt verantwortlich. Das geht aber nicht, denn er ist ja ein liebender Gott, der sogar seinen Sohn geopfert hat, um uns, seine lieben Kinder zu retten. Um diesem Dilemma zu entgehen, finden wir Begriffe, wie „partielle Willensentscheidung“. Wir erfahren, dass Gott uns leiden lässt, um uns bestimmte Erfahrungen zu vermitteln. Wir werden auch nur soweit belastet, wie wir es ertragen können. Usw.
Ich kann mir nicht helfen, aber das ganze Gerede mutet wie ein Eiertanz an, nur um eine klare Ansage zu vermeiden. Ich bin ziemlich skeptisch, was unseren freien Willen anbelangt. Sicher, ich kann jetzt entscheiden, ob ich mich an den Computer setze und diesen Artikel schreibe oder ob ich spazieren gehe. Wenn mich allerdings eine schicksalhafte Botschaft erreichen würde, an der ich zu knabbern hätte, dann bin ich nicht sicher, ob ich Herr meiner Re- (Aktionen) wäre. Das heißt, ob ich erwachsen, meinen jetzigen Erfahrungen gemäß reagieren würde oder ob alte Strukturen und Ängste aus längst vergangenen Zeiten das Ruder ergreifen würden, ob ich wollte oder nicht.
Das Dasein muss gelebt werden, wie auch immer. J.J Cale, einer meiner Lieblingssänger, hat einen Titel namens „Carry on“( Mach weiter). Hugh Laurie singt: „Everyone must play the game.“
Es heißt, dass keiner aus seiner Haut kann. Wenn wir uns selbst und die Menschen unserer Umgebung ansehen, so nehmen wir wahr, dass bestimmte Charakterzüge vorhanden sind, die sich nicht ändern, auch wenn es noch so sehr gewollt ist. Denken wir nur an den Ausspruch: „Sei doch ein bisschen spontaner.“
Dies betrifft auch anderes, wie zum Beispiel die äußere Erscheinung. Ein Mensch, der die Kriterien erfüllt, nach denen wir heutzutage jemanden als attraktiv definieren, wird andere Erfahrungen machen als einer, den die Natur (eigentlich müssten wir hier Gott sagen) nicht so gesegnet (!) hat. In beiden Fällen werden die unterschiedlichen Erfahrungen Verhaltensweisen hervorbringen, die willentlich nicht einfach zu verändern sind.
Frühkindliche Erfahrungen halten sich ein ganzes Leben lang und bestimmen das Verhalten. Hier werden Strukturen angelegt, mit denen man als Kind sein Leben bewältigen konnte. Als Erwachsener könnte und sollte man sie verändern, aber dies ist nur partiell möglich. Ein Beispiel: Kleine Kinder sind machtlos und vollkommen vom Wohlwollen und der Liebe der Eltern abhängig. Haben die Eltern gute Lebenserfahrungen gemacht, so ist es wahrscheinlicher, dass sie eher auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen können als wenn dies nicht so wäre. In jedem Fall wird das Kind trotzdem auch Erfahrungen des Schmerzes, des Alleinseins usw. erleben. In solchen Situationen mag es die Erfahrung machen, dass Süßes den Schmerz vermindert. Auf psychologisch heißt das, es führt sich orale Befriedigung zu. Später werden dann Zigaretten daraus oder es bleibt bei Schokolade. Der Erwachsene hätte andere Mechanismen zur Verfügung, um mit schwierigen Lebenserfahrungen umzugehen. Aber – die Süßigkeiten, die Zigaretten und der Wein existieren im Unterbewussten weiter und können jederzeit virulent werden, obwohl der Wille Nein sagt.
Im Grunde ist die Frage nach dem freien Willen akademisch, da das Leben gelebt werden muss wie es kommt.
In die heutigen Streiflichter habe ich den folgenden Spruch eingestellt, der die Situation einschließlich Lösung gut umschreibt.
Zen-Meister Bokaju wurde einst von einem Mönch gefragt: „Wir müssen uns jeden Tag anziehen und essen, wie können wir von all dem loskommen?“ Bokaju antwortete: „Wir ziehen uns an, wir essen.“ Der Mönch sagte: „Das verstehe ich nicht.“ Da sagte Bokaju: „Wenn du es nicht verstehst, zieh deine Kleider an und iss deine Mahlzeiten.“
Anders ausgedrückt: „Mach, was anliegt, verurteile dich nicht und sieh nicht zurück“. Es ist wie mit der Bergpredigt. Sie wissen schon, die mit den schönen Sätzen wie: „Halte die andere Backe auch hin“ und „Wenn dir einer das Hemd nehmen will, so lass ihm auch den Mantel“ usw. Ohne einen ethischen Überbau geht es nicht. Wir brauchen Leuchttürme, denen wir folgen können. Das heißt, es geht um ständiges Bemühen. Im Yoga nennen wir das Abhyasa. Ob wir die hehren Ziele erreichen, werden wir sehen.
Ob es jetzt Gottes Wille ist, dass wir auf die Nase fallen oder ob wir uns das selbst zuzuschreiben haben, weil wir schlechtes Karma aufarbeiten müssen, Tatsache ist, dass wir wieder aufstehen sollten, oder?
Als Mönche den Buddha überreden wollten, über die letzten Wirklichkeiten zu sprechen, weigerte er sich mit ähnlichen Worten wie Zen-Meister Bokaju im obigen Zitat, indem er die Fragenden auf das Naheliegende hinwies.