Lebenskunst

oznor

Ein Yogi lebte im Dschungel einsam und von der Welt abgeschieden. Er widmete sein Leben der Meditation, um zur Erleuchtung zu gelangen. Eines Tages kam ein Wanderheiliger vorbei, einer jener Sadhus, die das weite Indien vom Kap Kanja Kumari bis in den Himalaja durchwandern. Sie wollen heimatlos sein, um Bindungen zu vermeiden. Anhaften an einen Ort, eine Person oder an Dinge bedeutet die Entwicklung von Wünschen und Forderungen, die wiederum Enttäuschungen mit sich bringen, woraus sich in der Folge negative Gefühle entwickeln usw.

Sie durchwandern die Welt ohne Besitz und versuchen so dem Anhaften zu entkommen.

Dieser Sadhu nun besaß eine der heiligen Schriften des Yoga. Als er sah, dass die Augen unseres Yogi begehrlich aufleuchteten, schenkte er sie ihm. Hinfort las er jeden Tag darin. Nach einigen Wochen musste er betrübt feststellen, dass einige Seiten der Schrift angenagt waren. Er wusste, dass in seiner Höhle Ratten und Mäuse wohnten. Es hatte ihn nie gestört, waren sie doch auch Wesen, die durch die Wanderung durch unzählige Inkarnationen der Erleuchtung entgegen strebten.

Zudem hatte er das große Gelübde abgelegt, nie, unter keinen Umständen Gewalt auszuüben. Nicht einmal, wenn das eigene Leben gefährdet war. Das Aufstellen einer Mausefalle verbot sich also, aber eine Katze konnte er sich anschaffen. Für sie war es ganz natürlich, Mäuse und Ratten zu jagen. Die Katze tat auch, wie gewünscht, ihre Pflicht. Aber, sie brauchte auch ihr Schälchen Milch und hier war guter Rat teuer. Woher nehmen? Schließlich entschied er sich für die Anschaffung einer Kuh. So hatte die Katze ihre tägliche Milch. Aber auch die Kuh wollte versorgt sein. Der geneigte Leser ahnt, wohin das Ganze führte. Zum Schluss hatte unser Yogi eine Frau, eine kleine Landwirtschaft und zwei Kinder.

Er kam nur noch selten dazu, in der heiligen Schrift zu lesen.

Was war falsch gelaufen? Es gibt Berichte von extrem bedürfnisreduzierten Einsiedlern. Sie lehnten sogar den Besitz eines Lendenschurzes ab und begnügten sich mit einer Schnur und einer Winzigkeit an Stoff. Aber – auch das ist überliefert, dass sie eifersüchtig an diesem geringen Besitz hingen.

Kant sagte einmal sinngemäß, dass man nur frei sein kann, wenn man seine Pflichten als Freiheit ansehen kann. Es geht nicht darum, sein Pferd zu besteigen, sich eine Lucky anzuzünden, in den Sonnenuntergang zu reiten und alles hinter sich zu lassen. Man kann nichts hinter sich lassen. Alles, was in einem an Begehren, Gefühlen usw. ist, folgt einem, bis es integriert ist.

Mir fällt in diesem Zusammenhang der griechische Philosoph Epikur ein. Er wird ja oft als hemmungsloser Hedonist angesehen, der seinen Lüsten freien Lauf ließ. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Wer wirklich genießen will, muss Asket sein. Genuss ist ja nicht das hemmungslose sich etwas Einverleiben, sondern das mit allen Sinnen und einem wachen Geist Genießen. Wenn jemand in ein Dreisternerestaurant geht, dann tut er das nicht, um sich den Bauch vollzuschlagen, sondern um diese kunstvollen Kleinigkeiten ganz bewusst zu goutieren. Satt werden würde er an jeder Currywurstbude. Die Auswahl treffen können, sich für etwas unter Vielem entscheiden können, das ist die Kunst. Dabei muss man seine Begierden kontrollieren können, denn wenn man am Anfang des Menüs zu viel von dem leckeren Brot gegessen hat, ist der Bauch voll. Dasselbe ist es mit dem edlen Wein. Nur im Maß liegt die Lebenskunst.

Man lausche diesem Wort! Leben als Kunst. Ich finde es gut, sich jeden Tag als ein Kunstwerk vorzustellen. Abends, wenn man dann Muse hat, kann man rückblickend feststellen, inwieweit das gelungen ist. Ein bisschen Körperliches, ein bisschen Geistiges und ein bisschen was für die Seele sollte dabei gewesen sein. Wobei es da keine klare Trennung gibt.

Ich denke hier immer an mein Lieblingsbuch „Lost Horizon“ von James Hilton. Es ist die Geschichte von Shangri La, dem Tal der ewigen Jugend. Die Mönche in dem Kloster dort haben unendlich viel Zeit. Sie können sich alten Schriften widmen. Sie haben Zeit, aus winzigen kleinen Tassen feinen Tee zu trinken. Es gibt keine Hast.

Man kann sich der Hast entziehen. Nur zehn Minuten in einer meditativen Haltung verändern die Wahrnehmung und die Welt ist entschleunigt.

Ich bin misstrauisch, was radikales Verhalten anbelangt: „Ich esse jetzt dies und das nicht mehr. Da bin ich unerbittlich mit mir.“ Ich sehe da immer die typischen Reformhauskunden vor mir, die meiner Beobachtung nach häufig etwas zerknittert und eingeschränkt wirken.

Für mich ist Lebenskunst die Kunst, die Mitte zu finden. Das gelingt manchmal gut, manchmal weniger gut. Aber morgen ist ja ein neuer Tag. Für ein neues Kunstwerk.

Total Page Visits: 528 - Today Page Visits: 1